Am 6.3.2012 wurde am Leipziger Landgericht der Prozess gegen sechs Männer, die wegen der Tötung von Andre K. bzw. unterlassener Hilfeleistung angeklagt sind, fortgeführt. Den beiden Geständnissen am vorigen Verhandlungstag, dem 24.2., folgte nun eine weitere Einlassung.
Der 16-jährigen Chris K. legte die Geschehnisse aus seiner Sicht dar. Er bestätigte den Verlauf weitestgehend so wie ihn der Mitangeklagte David O. geschildert hatte. Demnach sei die Gruppe an jenem Abend des 26.5.2011 nach Aufenthalten in zwei Wohnungen auf Initiative von Ronny S. losgegangen um dem wohnungslosen Andre K. „eine Abreibung zu verpassen“. Was geschah, als sie den Wehrlosen am Südbahnhof in Oschatz fanden, ist bekannt: mit über 30 Tritten und Schlägen misshandelten sie den damals 50-jährigen, er verstarb wenige Tage später aufgrund der schweren Verletzungen.
Chris K. hatte sich nach eigenen Aussagen nicht an dem Gewaltakt beteiligt. Dies hatte David O. Im Rahmen der Verhandlung am genauso angegeben.
Er habe mit Silvio H., der im Unterschied zu allen anderen nicht wegen Totschlags sondern wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagte ist, abseits gestanden und verbal interveniert („Hört auf“). Hier beginnen die ersten Widersprüche zutage zu treten. Laut Sebastian B., der sich ebenfalls am 24.2. eingelassen hatte, war Chris K. am Geschehen beteiligt. Außerdem hatte der wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagte Silvio H. bei der Polizei ausgesagt, dass er allein so weit entfernt stand, dass er das Geschehen nicht unmittelbar wahrgenommen habe.
Die Glaubwürdigkeit der Einlassung von Chris K. litt am 6.3. nicht zuletzt dadurch, dass er – nach Befragung durch Richter und Staatsanwältin – bei der ersten Frage, die die Vertreterin der Nebenklage nach seinem genauen Standort während der Tat an ihn richtete, über seinen Anwalt mitteilen ließ, dass er keine Fragen mehr zulasse, ausgenommen die der bestellten Gutachter.
Die Berliner Rechtsanwältin Undine Weyers, die die Interessen eines der Kinder des verstorbenen Andre K. vertritt, fuhr an diesem Verhandlungstag zur Höchstform auf und brachte während der Vernehmung des 2. Zeugen, des ermittlungsführenden Polizeibeamten, die Frage nach dem Motiv auf den Tisch. Die Antwort auf diese Frage nach dem Grund für den Gewaltausbruch der jungen Männer wurde offensichtlich von der Polizei nicht angemessen gesucht. Zwar gaben die Angeklagte und ZeugInnen, die sich bisher geäußert haben an, dass „Schulden eintreiben“ der Grund für die Suche nach Andre K. gewesen wäre, die soziale Situation von Andre K. läßt daran allerdings zweifeln. Undine Weyers führte an diesem Punkt eine mögliche rechte Tatmotivation ein, die von verschiedenen Akteuren aus Politik und Opferberatungs-Zusammenhängen bereits vermutet wird. Der Angeklagte Ronny S., der bisher als Hauptinitiator der Tat erscheint, ist als bekennender Nazi bekannt. Er pflegt(e) enge Kontakte zur hiesigen Jugendorganisation der NPD und posiert im Internet vor dem Hintergrund einer Reichskriegsflagge, was nun auch in die Akten des Prozesses eingeht. Ebenfalls aktenkundig ist, dass Silvio H. laut Aussagen einer Zeugin „eher eine rechte Meinung“ hat und dass Chris K. in Oschatz als „Thor Steinar Chris“ bekannt war. Die Polizei scheint diese Indizien und vor allem die Absurdität des „Schulden“-Motives nicht so wichtig zu nehmen. Laut Aussagen des ermittlungsführenden Beamten, habe man darüber nur „aus der Presse“ erfahren. Vor dem Hintergrund dieses gelinde gesagt nachsichtigen Umgangs mit verfahrensrelevanten Anhaltspunkten durch die Ermittlungsbehörde Polizei versuchte Rechtsanwältin Weyers einmal mehr zu erhellen, dass rechte Tatmotivationen auch dann gegeben sein können, wenn der/ die TäterInnen bei der Tat nicht „Sieg heil“ rufen oder wenn es sich nicht um eine „klassischen“ Hergang – Neonazi schlägt Migrant/in – handelt. Doch sie biß damit auf Granit. Auf Intervention des Richters musste sie die Fragen, mit denen sie diese Spur beleuchten wollte, einstellen. Sie kündigte allerdings an, dass sie nicht locker lassen würde, in dieser Hinsicht weiter nachzufragen und tat dies auch bei der Vernehmung des vierten Zeugen, einem Bekannten von Ronny S. Der derzeit selbst inhaftierte Stephan K. lebte temporär bei Ronny S. und bestätigte dessen rechte Einstellung. Vorgeladen worden war er, weil S. ihm von der Gewaltattacke gegen Andre K. erzählt hätte. Reue war bei seinem Kumpel dabei nicht erkennbar, eher sei dieser während des Erzählens „gut drauf“ gewesen. K. redete obwohl er in der JSA Regis-Breitingen, wo er derzeit einsitzt, bereits bedroht wurde, nicht auszusagen.
Viele Fragen blieben auch nach diesem Verhandlungstag offen. Wer war in welcher Form an der Misshandlung von Andre K. beteiligt? Was ging in den Köpfen der Beteiligten vor? Haben Sebastian B. und Tommy J., die zu zweit noch einmal zum Tatort zurückgelaufen sind, ihr Opfer tatsächlich auf die Bahnschienen gelegt, wie verschiedene Aussagen nahe legen, und damit einen handfesten Mordversuch gestartet? Warum hat niemand der Angeklagten – zumindest anonym – einen Krankenwagen gerufen, wenn doch das Geschehene eigentlich „gar nicht gewollt“ war?
Der Prozess wird am 27.3.2012 fortgesetzt.