„Wir fordern die Abschaffung der so genannten Demokratieerklärung und den Ausbau von Strukturen und Ressourcen, die ein breites zivilgesellschaftliches Engagement für ein würdiges Zusammenleben aller Menschen ermöglichen.“
Quelle: http://klausel2011.blogsport.eu/, Brief unterstützen
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Landesregierung des Freistaates Sachsen,
sehr geehrte Abgeordnete der Fraktionen des Sächsischen Landtages,
mit diesem Offenen Brief wollen wir, als freiwillig Engagierte der politischen Bildungsarbeit in Sachsen, unseren Unmut und unsere Kritik über die von Ihnen eingeführte „Demokratieerklärung“ im Rahmen des Programms „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ ausdrücken. Seit Anfang 2011 gehört es für uns zur traurigen Notwendigkeit, unsere seit Jahren bestehende ehrenamtliche Arbeit für eine demokratische Kultur in Sachsen durch eine Unterschrift zu bestätigen. Diese Praxis verstößt nach unserer Meinung gegen demokratische Grundprinzipien. Wir verstehen sie als eine Missachtung und Nicht-Anerkennung unserer Arbeit in den zahlreichen Projekten, in denen wir uns für eine lebendige Demokratie und gegen menschenverachtendes Denken und Handeln einsetzen.
Wir sind Schüler_innen, Studierende, Auszubildende, Berufstätige, Bewohner_innen und betrachten die politische Bildung einer Gesellschaft als wichtige Voraussetzung für eine funktionierende und lebendige Demokratie. Mit diesem Schreiben stellen wir uns auch gegen den pauschalen Eindruck, junge Menschen unterlägen der Politikverdrossenheit. Wir engagieren uns gern freiwillig und wollen das positive Zusammenleben im Freistaat fördern und insbesondere dabei helfen, Schranken und Ausgrenzung, die zur Diskriminierung von Menschen führen, abzubauen.
Diese Arbeit stellt für uns eine Möglichkeit dar, Menschen zu bürgerschaftlichem Engagement zu ermutigen. Wir versuchen, Politik erlebbar zu gestalten, indem wir sie in den öffentlichen Raum tragen und unsere Angebote beispielsweise niedrigschwellig konzipieren. Durch unsere Arbeit informieren wir junge Menschen und Bewohner_innen in Sachsen über globale und historische Probleme. Wir versuchen, diese in Zusammenhang mit der Lebenswelt unserer Teilnehmer_innen zu setzen und sie damit zu verantwortungsvollem Handeln und Nachdenken anzuregen.
Unser Verständnis einer modernen Demokratie ist dabei von der Idee einer eigenständigen und von parteipolitischen Richtungen unabhängig agierenden, aber mit den Institutionen im Dialog stehenden Zivilgesellschaft geprägt.
Derzeit betreiben dutzende Vereine und Initiativen in Sachsen eine vielseitige und wertvolle Arbeit für ein besseres Zusammenleben aller Menschen im Freistaat. Für diese Arbeit braucht es das Vertrauen und einen partnerschaftlichen sowie auf Kooperation setzenden Umgang zwischen den in der Gesellschaft Agierenden und den gesetzgebenden Organen.
In den letzten Jahren wurden viele, gut funktionierende Netzwerke aufgebaut, die inzwischen in zahlreichen Regionen des Freistaates eine hochwertige und unverzichtbare Arbeit leisten.
Die Unterschiedlichkeit der Projekte und Bereiche ermöglicht es, Sensibilität in den verschiedensten Zielgruppen zu schaffen. Die Förderung einer solchen Vielfältigkeit hilft dabei, ein Bewusstsein für demokratische Strukturen herzustellen und Bewohner_innen mit einzubeziehen.
In diesem Zusammenhang wollen wir uns deutlich gegen die Anwendung einer so genannten Demokratieerklärung aussprechen. Seit Beginn des Jahres müssen freiwillig Engagierte für den Erhalt einer Aufwandsentschädigung mit einer zusätzlichen Unterschrift versichern, dass sie sich zur “freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik” bekennen und keine Aktivitäten gegen diese entfalten werden. Eine ähnliche Erklärung müssen Projektverantwortliche und Vereine leisten. Wir ziehen daraus den Schluss, dass Menschen, die sich freiwillig in den verschiedenen Bereichen engagieren, somit unter Generalverdacht gestellt werden, mit ihrer Arbeit dem Zusammenleben unserer Gesellschaft zu schaden. Die Einschätzung, welche Aktivitäten verfassungsfeindlich gemäß der Erklärung sind, wird willkürlich und anhand der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes getroffen. Unserer Auffassung nach wird somit nicht nur demokratische Vielfalt beschnitten, sondern ebenso eine Loyalität zu staatlichen Organen und dem Extremismus-Denken des Verfassungsschutzes erzwungen. Durch die Verpflichtung zur Unterschrift werden weiterhin Netzwerke und Kontakte, die bislang gut funktionierten, zerstört oder nachhaltig negativ beeinträchtigt. Bereits mit der Einführung der Extremismusklausel Anfang 2011 wurden zahlreiche Vereine, Initiativen und Organisationen genötigt, entweder die Klausel zu unterschreiben oder auf die Projektgelder zu verzichten. In der Konsequenz zogen sich Akteure aus den staatlich gestützten Programmen zurück. Teilweise handelte es sich dabei um Vereine, die sich seit Jahren für eine Stärkung der Demokratie in Sachsen einsetzen. Nicht nur unsere Vorstellungen von Demokratie und Zivilgesellschaft widersprechen der Klausel-Praxis, auch von juristischer Seite erfahren wir in unserer Argumentation Unterstützung. Mehrere Gutachten, sowohl auf Landes- wie auch auf Bundesebene kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Praxis der Klausel rechtswidrig und mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren ist. Eine solche Einschätzung traf der juristische Dienst des Sächsischen Landtags am 5. Oktober 2011[1]. In seinem Gutachten heißt es, dass die Demokratieerklärung gegen das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verstößt, da die Vergabe der Fördergelder an einen faktischen Bekenntniszwang gebunden ist. Die Jurist_innen kommen zu der Einsicht, dass die Klausel in Zusammenhang mit der Vergabe der öffentlichen Fördergelder sogar zum Rückgang des bürgerschaftlichen Engagements führen kann und letztlich dem Bestreben des Programms “Weltoffenes Sachsen”, zur Förderung von Demokratie und Toleranz entgegensteht.
Hinter der Einführung der Klausel zu Beginn diesen Jahres verbirgt sich eine festsitzende Sorge mehrheitlich konservativ-liberaler Politiker_innen, die öffentlichen Gelder aus den Demokratieprogrammen könnten zweckentfremdet und für extremistische Belange missbraucht werden. Ein Blick auf die reale Situation in Sachsen sowie der Bundesrepublik macht jedoch deutlich, dass diese Sorge weder empirisch bestätigt wird, noch dass es andere rationale Erklärungen für diese Praxis gibt. Das zentrale Problem hinter dem politischen Streit um die Klausel ist die Konstruktion eines politischen Extremismus-Modells, ausgehend von den Landesämtern und dem Bundesamt für Verfassungsschutz seit den 1970er Jahren. Hinter diesem Extremismus-Ansatz steht nicht etwa die Sorge um die zahlreichen Betroffenen menschenverachtenden Denkens, sondern vielmehr das politische Kalkül, linke und rechte Einstellungen als Extremismen zu bezeichnen und gleichzusetzen. Diese Sichtweise verkennt jedoch (bewusst), die tatsächliche Bedrohung von menschenverachtenden Denken und Handeln: Die Statistik der Amadeu-Antonio-Stiftung[2] zeigt, dass in den letzten 21 Jahren 182 Menschen in Deutschland von Nazis und Rassist_innen ermordet wurden. Wie im Programm “Weltoffenes Sachsen” aufgeführt, zeigt sich, dass auch im Freistaat Ideologien wie Antisemitismus und Rassismus maßgeblich das friedliche Zusammenleben aller Menschen stören und durch die verschiedenen Projekte und Arbeiten im Rahmen zivilgesellschaftlichen Engagements zurückgedrängt werden müssen. In der Extremismus-Betrachtung werden jedoch oftmals jene Menschen als Extremist_innen bezeichnet, die sich für demokratische Werte engagieren, beispielsweise im Protest gegen Aufmärsche von Neonazis. Das Extremismus-Konzept ist ein politisches Konstrukt und basiert, entgegen den Forschungen zu Rassismus, Antisemitismus und Ungleichwertigkeitsideologien, weder auf einer pädagogischen noch auf einer wissenschaftlichen Basis.
Die erschütternden Bilder und Berichte aus Zwickau im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu der neonazistischen „Zwickauer Zelle“ machen uns einmal mehr deutlich, dass das Zusammenleben aller Menschen durch Rassismus und menschenverachtendes Denken bedroht wird. Schon lange vor dem Bekanntwerden der Mordserie des so genannten „National-Sozialistischen Untergrundes“ (NSU) zeigte sich rechte Gewalt und Menschenverachtung als ein ernstzunehmendes Problem in Sachsen sowie in der übrigen Bundesrepublik. Bei unserer Arbeit treffen wir nur selten auf geschulte Neonazis. Vielmehr begegnen wir Menschen jeden Alters, die sich zwar nicht der rechten Szene zugehörig fühlen, aber dennoch menschenverachtende Einstellungen äußern und weitverbreitete Vorurteile zur Begründung ihrer Einstellung benennen.
Auch wissenschaftliche Untersuchungen, wie beispielsweise die Längsschnittstudie „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ des IKG Bielefeld[3], kommen zu dem Ergebnis, dass Menschenverachtung und Ungleichwertigkeitsideologien keineswegs auf eine kleine Gruppe der Bevölkerung reduziert werden dürfen, sondern vielmehr in allen Bereichen der Gesellschaft zu finden sind. Wir sehen in der Arbeit gegen diese Art von Alltagsrassismus und menschenverachtende Ideologien eine entscheidende Aufgabe unserer Tätigkeiten.
Die Thematisierung und Reflexion dieser sind das wirksamste Mittel gegen brutale, rassistische Gewalttaten wie sie von der “NSU” ausgingen und von anderen Gruppierungen oder Einzelpersonen weiterhin ausgehen.
In Anbetracht der problematischen Verstrickungen des Verfassungsschutzes in den Rechtsterrorismus und der systematischen Verharmlosung neonazistischer Gewalt in den letzten 20 Jahren appellieren wir an Ihren Willen, zivilgesellschaftliches Engagement und Zusammenhalt zu fördern. Wir rufen Sie auf, eine lebhafte und vielfältige demokratische Kultur in Sachsen zu unterstützen.
Eine Demokratie, wie wir sie uns für dieses Land wünschen, braucht weder das staatliche Misstrauen gegenüber der Zivilgesellschaft und dem bürgerschaftlichen Engagement, das mit der Extremismusklausel herbeigeführt wird, noch helfen uns vereinfachte Konzepte eines politischen Extremismus-Modells bei der Bekämpfung menschenverachtenden Denkens und Handelns.
Wir fordern daher die Abschaffung der so genannten Demokratieerklärung und den Ausbau von Strukturen und Ressourcen, die ein breites zivilgesellschaftliches Engagement für ein würdiges Zusammenleben aller Menschen ermöglichen.
Freiwillig Engagierte in der politischen Bildungsarbeit im Freistaat Sachsen, Dezember 2011