Stuttgart 21 – Polizeieinsatz, Parteienprivileg und Eliten-Proteste

Der brutale Polizeieinsatz gegen „Stuttgart 21“-Protestierende hat am Freitag Abend an die 100.000 Menschen auf die Straße gebracht. Am Donnerstag hatten die besonders harten Polizeieinheiten – BFE und USK – einen übermässig harten Einsatz gefahren und waren mittels Wasserwerfern, Stöcken und Reizspray gegen die Menschen vorgegangen, die sich im Stuttgarter Schlosspark gegen den Beginn des Bahnhofsbauprojektes in Form von Baumfällungen versammelt hatten. Laut Polizei wurden 130 Menschen verletzt, die Protestierenden dagegen sprechen von 400

Die CDU-geführte Landesregierung lässt derweil Kritik weiter an sich abprallen, verteidigte den Polizeieinsatz anfangs konsequent und ruderte bis dato nur geringfügig zurück (Baden-Württtembergs CDU- Ministerpräsident Mappus „Die Bilder von gestern dürfen sich nicht wiederholen“, Kanzlerin Merkel rief zu Gewaltlosigkeit auf). An das Bauvorhaben des Milliardenprojektes lässt die CDU weiterhin keine Luft. Die Forderung nach einem erneuten Bürgerentscheid schwebt in der Luft (ein entsprechender Antrag wurde zuletzt 2007 vom Stadtrat Stuttgart abgelehnt).

Das Agieren der CDU lässt an deren überlegten strategischen Handeln zweifeln. Die im März 2011 anstehende Landtagswahl sind für die Parteien von rechts nach links wie für politische Beobachter zum entscheidenden Faktor geworden. Damit wird die Protestbewegung, die sich mehrheitlich aus Gutbürgerlichen und „ganz normalen Menschen“ zusammensetzt, einerseits zum Wahlvolk degradiert und die Avantgarde-Funktion von Parteien und Parlament zementiert. Die „Stuttgart 21“-Bewegung und deren FreundInnen,die am Freitag vielerorts zu Solidaritätsveranstaltungen aufriefen, scheinen dieses Spiel mitzuspielen. Von diesem Geplänkel, das längst zur knallhatten Wahlkampfbühne geworden ist, profitieren vor allem DIE GRÜNEN, deren Umfragewerte für die Landtagswahlen in BaWü mittlerweile auf 27% gewachsen sind.

Die Proteste in Stuttgart werden von kritischen AnalytikerInnen längst als Aufstand der Eliten gegen die herrschende Politik klassifiziert. Diese treibt weniger das Ideal von Gleichheit und Gerechtigkeit an, als die Sicherung ihrer eigenen Privilegien. Exemplarisch dafür steht die Ablehnung der Erweiterung der gemeinsamen Grundschulzeit von 4 auf 6 Jahren in Hamburg. Per Bürgerentscheid hatten dort im Juli um die 58 % der Wahlberechtigen gegen diese Minimierung sozialer Selektion in der Schule gestimmt, Triebfeder dafür war die Mittelschicht.
Belange von Asylsuchenden, die immer restriktiveren Hürden gegenüberstehen, wenn sie ihr Fluchtweg nach Deutschland führt oder die von den um die 5 Millionen BezieherInnen von ALG-2, deren monatlicher Bezug um billige 5 Euro steigen soll bzw. um 0,00 Euro für Kinder oder die wachsende Alltagsbedrohung alternativer Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund durch Nazigewalt tangiert diese „neue Protestbewegung“ nicht.

Polizeigewalt gegen dissidente Gruppen undoder solche, die sich für soziale und politische Rechte engagieren, ist in Deutschland Alltag. Im Jahr 2009 gab es insgesamt 2.980 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wegen Tötungsdelikten, Gewaltausübung und Amtsmissbrauch (in der betreffenden Statistik werden jedoch nur die Ermittlungen aufgeführt, die sich gegen namentlich bekannte Personen richten, sprich nur ein Bruchteil, denn in keinem Bundesland, außer in Berlin, gibt es eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte. Folge ist, dass TäterInnen nicht identifiziert werden könnten und ein Großteil der Anzeigen eingestellt wird. Viele wenden sich aber erst gar nicht an die Polizei, aus der berechtigen Angst vor Repressionen oder Zurückweisung). Gestört hat das die engagierte Mittelschicht kaum. Ob nicht doch ein Stein, Kiesel oder eine Kastanie doch zuerst aus den Reihen von DemonstrantInnen geworfen wurde, ist, war und bleibt die zentrale Frage und Gradmesser für Kritik an Polizeigewalt.

Der Polizeieinsatz vom 30.9.2010 in Stuttgart ist klar zu verurteilen, das Bahnhofsprojekt verdient Kritik,ebenso wie der arrogante Umgang von Politik und Wirtschaft mit dem Widerspruch der kritischen BürgerInnenschaft. Das am meisten Falsche wäre jedoch die Anti-“Stuttgart 21“.Bewegung als revolutionäre Kraft bzw. Bewegung für eine emanzipatorisch Gesellschaftstransformation zu deuten. „Dort wo Egoismus und nicht das Allgemeinwohl Triebfeder politischen Handelns sind, ist allerdings Obacht geboten.“ schreibt Jens Berger ins seinem Beitrag „Die neue Apo des Establishements“ am 6.9.2010 auf telepolis.
Es gilt also vielmehr sich Vehemenz und Breitenwirkung dieser Bewegung zum Vorbild zu machen und dies auf grundsätzliche gesellschaftliche Fragen, wie es die soziale und teilhabe-bezogene ist und bleibt, zu übertragen, bzw. zu übertragen zu versuchen. Wenn die Gesellschaft dazu nicht bereit scheint, dann ist eh alles verloren. Dann tut ein Bahnhofsausbaumegaprojekt auch nicht mehr weh.

Lesetipps:
Die neue APO des Establishments
. Die Mittelschicht macht mobil und entdeckt den Widerstand als politische Kommunikationsform (Jens Berger, Telepolis, 06.09.2010)

Projekte statt Bewegungen. Das Ländle ist im Aufruhr. Der Abriss eines alten, nicht sehr schönen Bahnhofs ruft die massivste Protestbewegung hervorm die es in den letzten Jahrzehnten in Stuttgart gegeben hat. Der Kulturwissenschaftler Klaus Schönberger vertritt die These, dass sich in diesen Protesten eine neue Form des Politischen zeigt (Quelle: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 553 / 17.9.2010, Interview: Ingo Stützle)

Aggressiv im Einsatz. Polizisten schlagen im Dienst häufig zu, wie eine aktuelle Statistik über Körperverletzung im Amt belegt. Juristische Kon­sequenzen haben sie kaum zu befürchten. (von Torsten Mense, jungle world Nr. 33vom 19.8.2010)

2 Gedanken zu „Stuttgart 21 – Polizeieinsatz, Parteienprivileg und Eliten-Proteste“

  1. So wie das in der Presse zu lesen ist, hat die Politik die grösste Schuld an dem Polizeieinsatz. Irgendwie verstehe ich die CDU nicht. Die schreien wirklich laut, wählt mich ab. Sei es bei den Atomkraftwerken oder besonders bei Stuttgart 21. Eine Regierung die gegen das Volk regiert wird bei der nächsten Wahl dafür abgewählt.

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