Seenotrettung ist kein Verbrechen. Für einen staatlichen Fährdienst, jetzt!

Im Rahmen der Landtagssitzung am 27. September 2018 gab es eine aktuelle Debatte zum Thema „Seenotrettung ist kein Verbrechen – das andere Sachsen handelt!“. Hier meine Wortbeiträge in der Debatte:

Rede von MdL Juliane Nagel während der Aktuellen Debatte auf Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

080. Sitzung des 6. Sächsischen Landtages, 27.09.2018

Auszug aus dem Stenografenprotokoll

Sehr geehrter Herr Präsident!

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Schiemann, Sie haben mir eine wunderbare Vorlage geliefert. Ich teile Ihre Analyse: Die Menschen steigen auf Boote, die nicht fahrtauglich sind, begeben sich in großes Risiko. Daran sieht man ja, in welchen Risiken, in welch unsicheren Situationen die Menschen leben, sodass sie diesen Schritt überhaupt gehen. Aber ich mache mal einen Punkt.

Die libysche Küstenwache wird derzeit von der Europäischen Union massiv mit Geld aufgepumpt. Mit wem kooperiert die libysche Küstenwache? Mit Schleppern, mit organisierter Kriminalität. Das ist genau das Phänomen, was Sie hier beschreiben und was Sie bekämpfen wollen; es wird durch die Bundesrepublik und die Europäische Union hinterrücks unterstützt. Das ist ein Skandal.

(Beifall bei den LINKEN und den GRÜNEN)

Der zweite Punkt: Bleiben Sie bei Ihren Gedanken nicht stehen, gehen Sie einen Schritt weiter, fragen Sie, wie Menschen gerettet werden können, wie das, was eigentlich auf der Hand liegt, betrieben werden kann.

Es muss staatliche Seenotrettungsprogramme geben. Es kann nicht NGOs überlassen werden, Menschenleben zu retten. Diesen gedanklichen Schritt müssen Sie dann auch gehen, wenn Sie hier Schlepper anprangern.

Ich will den GRÜNEN im Weiterem dafür danken, dass sie dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht, diese Debatte angeregt haben. Ich will den zweiten Teil des Titels der Debatte an den weitergehenden Anfang stellen: „Das andere Sachsen handelt“. Sie haben „Mission Lifeline“ erwähnt. Aber man muss noch weiter gehen. In den letzten Monaten, in den letzten Wochen haben wir einen wunderbaren, einen starken, einen humanistischen Aufbruch in Sachsen erlebt: In Dresden wie jetzt vor dem Landtag, in Leipzig, in Chemnitz, in Freiberg, in Bautzen, in Görlitz und anderen Städten sind viele Menschen auf die Straße gegangen, haben sich der „Seebrücke“ angeschlossen – gegen die Kriminalisierung von Seenotrettungsorganisationen, für das Recht auf Leben, für das Menschenrecht auf Flucht. Das war ein ganz großartiges Zeichen.

Ich kann das weiterführen. Es sind großartige NGOs. Das ist nicht nur die Dresdner „Mission Lifeline“, das sind die „Ärzte ohne Grenzen“, „SOS Mediterranee“, „Sea-Watch“, „Jugend Rettet“ usw. usf. Das sind tapfere Seeleute wie Claus-Peter Reisch, der Kapitän der „Lifeline“, und es sind die vielen ehrenamtlich tätigen Menschen, die praktisch auf diesen Schiffen Lebensrettung leisten. Ihnen gilt zuerst der Dank. Das ist sozusagen das Antlitz eines anderen Sachsens, einer anderen Bundesrepublik, was wir ganz aktiv hier auf den Straßen oder im Mittelmeer spüren.

(Beifall bei den LINKEN und den GRÜNEN)

Trotz dieser positiven Bilder müssen wir konstatieren, dass wir es mit einem Tiefpunkt zu tun haben, einem „Tiefpunkt der Menschlichkeit“ – das ist übrigens ein Zitat von dem CDU-Kollegen Elmar Brök aus dem Europäischen Parlament -, einem Tiefpunkt der Europäischen Union und auch einem Tiefpunkt der bundesrepublikanischen Politik.

Die Debatte kann ja nicht aktuell genug sein. Gucken wir auf das, was in den letzten Tagen wieder passiert ist. Die „Aquarius II“, das NGO-Schiff von „Ärzte ohne Grenzen“, ist wiederum fünf Tage im Mittelmeer herumgeirrt, an Bord 58 Menschen, darunter 18 Kinder.

Es wurde hinausgezögert. Es wurde sich dem Anlegen verweigert. Dafür ist vor allem die neue italienische Regierung verantwortlich. Dafür sind wir aber als Bundesrepublik mit verantwortlich, für dieses humanitäre Drama, was sich inzwischen regelmäßig auf dem Mittelmeer abspielt.

(Carsten Hütter, AfD: Wofür sind wir noch verantwortlich? – Zurufe des Abg. Andre Barth, AfD)

Es setzt sich fort, was wir im Juni erleben mussten, was wir in den letzten Monaten bzw. schon über ein Jahr erleben mussten: —

(Carsten Hütter, AfD: Wofür ist Deutschland verantwortlich?)

Dazu komme ich gleich. NGO-Schiffe stechen in See, retten Menschen und werden an der langen Hand ausgebootet. Es wurde bereits beschrieben, wie die Situation auf den Schiffen ist. Es ist eine humanitäre Katastrophe. Die Schiffe sind, wie sie wissen jetzt auch mit der Aquarius II, weitestgehend beschlagnahmt. Im Gegenzug dazu steigt die Zahl der Todesopfer im Mittelmeer. Das können wir als demokratischer Staat, als demokratische Gesellschaft nicht dulden.

(Beifall bei den LINKEN und den GRÜNEN)

Im Juni 2018, kurz nachdem die Lifeline und die Sea-Watch beschlagnahmt wurden und die Aquarius und die Open Arms festgesetzt waren, ertranken im Mittelmeer 629 Menschen. Im Mai waren es noch 48 gewesen. UNHCR geht davon aus, dass inzwischen jeder siebente Mensch bei der Überfahrt übers Mittelmeer stirbt. Im ersten Halbjahr 2017 war es noch einer von 38 gewesen. Ich möchte die Zahlen kurz fortsetzen. Man kann sie zusammenzählen. Das sind gesicherte Zahlen. Wahrscheinlich sind sie noch mit Dunkelziffern zu erhöhen. Seit 2014 starben bei der Überfahrt übers Mittelmeer 17.000 Menschen. Wer bei diesen Zahlen nicht wütend wird und wer angesichts dieser konzertierten verhinderten Lebensrettung nicht von einer Verrohung von Politik sprechen mag, dem ist nicht zu helfen.

Über die deutsche Verantwortung daran werde ich in der zweiten Rederunde sprechen.

(Beifall bei den LINKEN und den GRÜNEN – Andre Barth, AfD: Wir warten!)

2. Rede

Sehr geehrte Frau Präsidentin!

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Warum fliehen Menschen aus dem südlichen Teil der Erde, vom Kontinent Afrika? Sie fliehen vor Militärdiktaturen, vor Folter, vor wirtschaftlicher Ausbeutung und vor klimatischen Verwerfungen. Was kann man aktuell beobachten? Vor allem durch die Bundesrepublik Deutschland vorangetrieben, werden Pakte mit Diktaturen abgeschlossen, um Migrationsabwehr zu betreiben. Die Handelspolitik wird verändert, damit sich die Staaten dort selbst regenerieren können.

(Andre Barth, AfD: Das ist ja richtig!)

– Nein, das wird nicht gemacht. Es wird militarisiert. Es wird Geld reingepumpt. Die libysche Küstenwache ist so ein Beispiel. Das ist der falsche Weg. Das ist keine Fluchtursachenbekämpfung.

(Beifall bei den LINKEN)

Ich wollte im zweiten Redebeitrag fokussieren, welche Verantwortung Deutschland mitträgt. Mare Nostrum ist hier schon mehrfach angesprochen worden. Mit Mare Nostrum konnten innerhalb eines Jahres 150.000 Menschenleben gerettet werden, eine immense Zahl, die private Seenotrettungsorganisationen so wahrscheinlich nicht erreichen. Warum hat Italien dieses Programm eingestellt? Weil es europäische Staaten nicht mitfinanzieren wollten. Das Programm war milliardenschwer, und die Staatengemeinschaft, darunter Deutschland als größter Player in der EU, hat sich verweigert, dieses Seenotrettungsprogramm mitzufinanzieren. Erste Schuld.

(Andre Barth, AfD: Schuld! Aha, ist ja interessant!)

Zweite Sache. Blicken wir zurück zum Juni auf das Drama mit der Mission Lifeline. Wer hat die Bedingungen gestellt, dass das Schiff festgesetzt wird, und wer hat sich verweigert, auch nur eine Person der 234 eine Woche auf dem Mittelmeer herumirrenden bzw. eingesperrten Menschen aufzunehmen? Das war Deutschland.

Das war Ihr Bundesinnenminister, der sich dem verweigert hat. Das ist ein Drama. Das ist eine Katastrophe.

(Beifall bei den LINKEN)

Die dritte Sache. Wir waren letztes Jahr mit dem Innenausschuss in Italien. Vielleicht erinnern sich manche Akteure daran. Was haben wir in jeder Gesprächsrunde gehört? Das Dublin-Abkommen ist das Problem und muss abgeschafft werden. Das waren die klaren Statements der italienischen Verantwortlichen, egal ob Zivilgesellschaft oder staatliche Akteure. Genau das muss angepackt werden. Schauen wir uns die Verhandlungen auf EU-Ebene an. Wer genau behindert eine Lösung für die Verteilung von Geflüchteten und einen fairen finanziellen Ausgleich?

Das ist vor allem Deutschland. Deutschland ist der Kläger in der Europäischen Union und versperrt sich tatsächlichen Lösungen für die Aufnahme und für die Verteilung Geflüchteter.

(Jörg Urban, AfD: Wo gehen die Leute denn hin? Das ist ja unverschämt, was Sie da erzählen!)

Wir als LINKE meinen, Dublin muss versenkt werden.

(Beifall bei den LINKEN)

Um das Sterben auf dem Mittelmeer zu stoppen, braucht es sichere Fluchtwege, zum Beispiel durch die Aufnahme von bestimmten Kontingenten von Geflüchteten. Dabei kann sich Deutschland auch selbst verantworten. Das Aufenthaltsgesetz gibt es her. Oder es bedarf eines staatlichen Fährdienstes nach Europa, und das ist keine Idee von mir. Das ist eine Idee von Klaus Bader, einem renommierten Migrationsforscher, und genau solche Ideen unterstützen wir als LINKE ausdrücklich.

Vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN – Zurufe des Abg. Jörg Urban, AfD – Rico Gebhardt, DIE LINKE: Herr Urban, bleiben Sie ruhig!)

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