„Es ist als habe jemand die Fenster aufgestoßen.“, sagte der von mir sehr geschätzte Schriftsteller Stefan Heym im Rahmen der Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, der größten unabhängigen Versammlung in der DDR.
Er plädierte in seiner Rede für Demokratie, für Freiheit und für Sozialismus, für einen demokratischen Sozialismus.
Wenige Wochen später fand in Berlin der Außerordentliche Parteitag der SED statt, der von der Parteibasis in diesen Umbruchszeiten erzwungen werden musste und wurde. Auch die Entscheidung die Partei nicht aufzulösen und zu einer Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) zu transformieren, war eine Entscheidung der Delegierten. Tief im Bewusstsein der neuen Partei eingebrannt ist die Botschaft, die der Philosophie-Professor und Politiker Michael Schumann auf diesem Außerordentlichen Parteitag setzte: „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System“.
Der Sozialismus wurde nicht reformiert, sondern die DDR dem kapitalistischen Westen einverleibt. Und: Nicht für alle ist dieser Bruch mit dem Stalinismus als politischer Ideologie und Methode, ist die kritische Betrachtung der diktatorischen Verhältnisse in der DDR auch wirklich grundlegende Sinnstiftung gewesen und geworden.
Neben historischen Dokumenten der Stimmen für eine Transformation des autoritären Staatssozialismus hin zu einem demokratischen Sozialismus, hat die Zeitschrift Disput auf einer Sonderwebsite auch aktuelle Stimmen 30 Jahre nach dem Umbruch der DDR und dem Umbruch der SED gesammelt. Auch eine von mir:
Der Bruch mit dem Stalinismus als System ist Alltagsaufgabe
Im Dezember 1989 war ich elf Jahre alt und gerade vom Jungpionier zum Thälmann-Pionier geworden. In kindlich-flapsiger Manier scherzte ich mit Freund*innen auf der Straße über das neu verliehene rote Halstuch, als uns eine Frau ansprach: Wir sollen das lassen, sonst bekommen wir und unsere Eltern Probleme. Das war wenige Monate vor der politischen Wende, bevor die SED zur PDS wurde und der »Bruch mit dem Stalinismus als System« als Prozess begann. 1999 trat ich, 21-jährig, in die PDS ein. Von Geschichte und Identität der Partei wusste ich wenig. Auf eine pluralistische Partei, die demokratische Kultur lebt und innere Widersprüche produktiv auflöst, traf ich nicht. Sie begegnete mir kulturell piefig, politisch konservativ, das DDR-Erbe gewichtig verwaltend und kritikresistent. Als wenn es Michael Schumanns Rede nicht gegeben hätte. Basisdemokratische Prozesse und libertär-demokratische Ansätze lernte ich in außerparlamentarischen Zusammenhängen kennen.
Aus dem linXXnet heraus, unserem offenen Büro, Schnittstelle zwischen Partei und linken freiheitlichen Bewegungen, bauten wir einen gewichtigen Teil unserer Partei, der nicht nur politischen Pluralismus und Parteienkritik lebt und fördert, sondern den Bruch mit dem Stalinismus als System aktiv einforderte und einfordert. Auch außerhalb, in Richtung nachwachsender Generationen, die in »roten« Gruppen Hammer und Sichel als Emblem und das Proletariat als Speerspitze der Revolution vor sich hertragen – auch wenn das Proletariat längst diffundiert und sich Ausbeutungsverhältnisse nicht mehr auf den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital reduzieren lassen. In einer Zeit, in der (ja, bürgerliche) Freiheitsrechte als hohes Gut erkämpft und verteidigt gehören.
Es gibt kein Zurück. Es gibt keine Revolution ohne die Mehrheit der Menschen. Der demokratische Sozialismus kann weder durchregiert noch mit Staatsgewalt durchgedrückt werden. Und: eine Gesellschaft der Freien und Gleichen kann nicht mit einer Organisation befördert werden, die weder Freiheit noch Gleichheit kennt. Das Projekt DIE LINKE steckt wie die SED 1989 in der Krise. Wir müssen uns den Fragen der Zeit stellen, müssen Perspektiven zu wechseln lernen, selbstkritisch und offen sein, neue Wege zu gehen.