Im Landtag haben wir beantragt, dass das Land Sachsen anderen Bundesländern folgt und im Vorgriff auf angekündigte Änderungen des Aufenthaltsgesetzes im Bund bereits jetzt von Abschiebungen von langjährig geduldeten Menschen abzusehen.
Der Chancenaufenthalt würde auch in Sachsen vielen Menschen endlich die durch jahrelange Kettenduldungen vorenthaltene Teilhabe an der Gesellschaft zu gewährt zu bekommen und Steine beim Weg in die eigene Wohnung oder in Arbeit aus dem Weg räumen. Eine Vorgriffsregelung könnte jetzt den Weg ebnen den Betroffenen Schutz und Sicherheit zu geben, bürokratische Kämpfe um Beschäftigungserlaubnisse oder menschenrechtswidrige Leistungskürzungen beenden.
Aber: Die Koalition aus CDU, Grünen und SPD hat unseren Vorstoß abgelehnt und auch der neuen Innenminister Schuster tritt sogleich in die Fussstapfen seines Vorgängers.
Meine Rede im Landtagsplenum am 2. Juni 2022 zum Nachlesen und -hören:
Für mich ist ein enormer Fortschritt, dass wir heute Menschen neue und echte Chancen für ein dauerhaftes Leben nach ihrer Flucht insbesondere vor Krieg und Gewalt und nach ihrer Integration bei uns im Land geben. Es ist ein starkes Zeichen aus dem Landtag für ein zeitgemäßes und neues Aufenthaltsrecht.“ so hieß es kürzlich in einer Pressemitteilung der SPD in Mecklenburg-Vorpommern nach der dortigen Landtagsentscheidung für eine Vorgriffsregelung zum so genannten Chancenaufenthalt. Dort hatten Grünen, FDP, SPD und Linke einen fraktionsübergreifenden Antrag vorgelegt.
Nicht nur demokratiepolitisch ein wichtiges Zeichen, sondern vor allem ein Stück Schutz und Hoffnung für zahlreiche Menschen, die langjährig geduldet in dem nördlichen Bundesland leben. Mecklenburg-Vorpommern folgt mit diesem Schritt Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Thüringen, Bremen und Niedersachsen, die ähnliche Regelungen auf den Weg gebracht haben.
Mit den Ländererlassen oder Hinweisschreiben wird Vorgriff auf im Bundes-Koalitionsvertrag angekündigten Änderungen des Aufenthaltsrechts genommen. Menschen, die mit Stichtag 1. Januar 2022 fünf Jahre hier leben, sollen demnach ein Aufenthaltsrecht auf Probe erhalten, wenn sie nicht straffällig geworden sind und sich zur FdGO bekennen. Weiterhin ist vorgesehen, die Mindestaufenthaltszeiten für ein Bleiberecht sowohl für Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene zu verkürzen und die Altersgrenze für junge Menschen von 21 auf 27 Jahre zu erhöhen. Alles ziemlich überfällige Maßnahmen.
Der Vorgriff auf diese avisierten bundespolitischen Änderungen bedeutet, dass die Ausländerbehörden von der zuständigen obersten Landesbehörde angehalten werden auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu verzichten und bspw Ermessensduldungen zu erteilen, sollten die Betroffenen absehbar unter die angekündigten Neuregelungen fallen. Und das ist vernünftig und im Sinne der betroffenen Menschen und auch der Gesellschaft.
Nehmen wir das Beispiel von Herrn K. Er wurde am 26. April aus Sachsen nach Pakistan abgeschoben. Er lebte mindestens 5 Jahre in Deutschland, arbeitete zuletzt als Koch in einem griechischen Restaurant in Leipzig. Ein Freund des Arbeitgebers versuchte mich noch am Abend der Abholung zu erreichen. Wir konnten nichts mehr für ihn, den Freund, den Kollegen, den Angestellten, tun.Herr K. ist einer der tausenden Menschen, die in Sachsen von einer Vorgriffsregelung profitieren könnten. Einer der vielen, die längst Teil unserer Gesellschaft geworden sind, hier Familien gegründet haben, hier arbeiten, Steuern zahlen, eine Ausbildung begonnen haben, sich bilden, die gewertschätzte Nachbar*innen, Arbeitskolleg*innen, gute Freund*innen geworden sind.
Zum Jahresende lebten hier knapp über 11.000 Menschen mit einer Duldung, mindestens die Hälfte über 4 Jahre.
Was bedeutet die Duldung? Sie bedeutet, dass der Asylantrag des oder der Betroffenen nicht erfolgreich war, eine Rückkehr aus individuellen Gründen, z.B. Erkrankungen oder rechtlichen Gründen, z.B. der Sicherheitslage m Zielland nicht möglich ist. Auch in Replik auf den Innenminister gestern und die rechte Seite des Parlaments möchte ich zudem darauf hinweisen, dass wir es in den vergangenen Jahre, ja Jahrzehnten mit ständigen Asylrechtsverschärfungen zu tun hatten, oder wie die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung seinerzeit zu Abschiebungen nach Afghanistan sagte: Nicht die Sicherheitslage dort hat sich verändert, sondern die politische Stimmung in Deutschland.
Und so haben sich die Chancen in Deutschland einen Aufenthalt über einen Asylantrag zu erlangen in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert. Über legale Zuwanderungswege oder einen echten Spurwechsel müssen wir gar nicht erst sprechen.Der Chancenaufenthalt würde auch in Sachsen vielen Menschen endlich die durch jahrelange Kettenduldungen vorenthaltene Teilhabe an der Gesellschaft zu gewährt zu bekommen und Steine beim Weg in die eigene Wohnung oder in Arbeit aus dem Weg räumen. Eine Vorgriffsregelung könnte jetzt den Weg ebnen den Betroffenen Schutz und Sicherheit zu geben, bürokratische Kämpfe um Beschäftigungserlaubnisse oder menschenrechtswidrige Leistungskürzungen beenden.
Es gibt also einen Haufen Vorteile und auch schon ausreichend Praxis aus anderen Ländern. Auch das Diakonische Werk der Ev.-Luth. Landeskirche, der Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen, die Arbeiterwohlfahrt, der Paritätische Wohlfahrtsverband, der DGB Sachsen, Arbeit und Leben e.V., RESQUE 2.0, sowie der Sächsische Flüchtlingsrat erhoben Anfang März diesen Jahres gemeinsam ihre Stimme für eine entsprechende sächsische Regelung.
Doch das Innenministerium mauert. Kein Wunder, könnte man sagen, spiegelt dies doch die bekannte Position, Menschen mit anderem Pass aus dieser Gesellschaft herauszuhalten und ihnen das Leben unnötig schwer zu machen, wieder. Abschiebungen um jeden Preis, das kennen wir aus den letzten Jahren zur Genüge. Und doch gibt es zahlreiche mit Mühe errungenen Erfolgsgeschichten wie die von Luan Zejneli aus Leipzig, der mit überragender Solidarität und vielen kleinen und großen jahrelangen Kämpfen nicht nur seinen Aufenthalt, sondern den seiner Familie sichern konnte. Heute arbeitet Luan in einer Zahnarztpraxis in Leipzig. Oder den Weg der Familie Immerlishvil aus Pirna, die infolge eines spektakulären Urteils des OVG Bautzen und überragender Solidarität im vergangenen Sommer aus Georgien nach Sachsen zurückgeholt werden musste.
Aber: Sachsen sieht aus rechtlichen Gründen von einer Vorgriffsregelung ab, so das Innenministerium auf ein Schreiben der oben genannten Verbände und auf eine Kleine Anfrage von mir, es fehle die gesetzliche Ermächtigung für ein Handeln des SMI. Doch wir wissen: Die Rechtsgründe sind vorgeschoben, es geht um den puren politischen Willen, und der ist im schwarzen Teil der sächsischen Regierung und im zuständigen Innenministerium nicht vorhanden, zumindest nicht unter Roland Wöller. Den mittlerweile sechs Bundesländern implizit zu unterstellen dass sie rechtswidrig handeln, ist schon ein starkes Stück. Vielleicht sieht der neue Innenminister ja klarer, wir sind gespannt.
Mit unserem Antrag wollen einen Versuch unternehmen es den anderen Bundesländern gleich zu machen, die den Schritt gegangen sind geflüchteten Menschen eine Bleibe- und Lebensperspektive zu geben. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen: Nehmen Sie sich ein Herz und stimmen Sie unserem Antrag zu. Für die betroffenen Menschen wäre es ein Segen. Und auch demokratiepolitisch ein wichtiges Signal!