Der Grundkonsens gegen Antisemitismus braucht aktive Arbeit und eine inklusive Debatte

Das Massaker der Hamas an 1.237 Menschen in Israel und Israels militärische Gegenreaktion sorgen weltweit für eine angeheizte Stimmung. Antisemitische Denkweisen, Handlungen, Drohungen und Gewalt gegen jüdische Menschen und Einrichtungen sind alltäglich – mehr als vor dem 7. Oktober. In Deutschland stieg die Zahl der erfassten Straftaten exponentiell, das Dunkelfeld dürfte groß sein. Die Empathie mit den Opfern und den Verschleppten und ihren Angehörigen ist marginal und wir immer marginaler. Dies zeigt sich auch in der schnellen Schuldumkehr: Israel sei doch letztendlich selbst schuld, die Politik von Besatzung und Vertreibung seien ursächlich, so die Argumentation, die die Taten der Hamas letztendlich legitimiere.

Anlass zahlreicher Demonstrationen in Deutschland sind daher auch die Blockade und der militärische Gegenschlag Israels gegen den Gazastreifen, ein Kontext, in dem Kritik auch ins israelfeindliche, in israelbezogenen Antisemitismus abgleitet.

Gleichzeitig hat die politische Debatte in Deutschland deutlich rassistische Züge angenommen: CDU, AfD, FDP, aber auch Verantwortungsträger der SPD verweisen die Verantwortung für Antisemitismus auf Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte. In der Tat sind viele der Gaza-solidarischen Demonstrationen und Aktionsformate von Menschen aus arabischsprachigen Communities getragen. Deshalb gilt jedoch noch lange nicht der perfide Umkehrschluss, dass alle Menschen aus diesen Communities, jeder Mensch aus dem nah- und mittlöstlichen Raum Antisemit*in und Hamas-Anhänger*in wäre – und dass es keinen deutschen oder europäischen Antisemitismus gäbe. Im Gegenteil war und ist das Gros der erfassten antisemitischen Vorfälle rechts motiviert. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 20219, bei dem zwei Menschen ermordet wurden, führen deutlich vor Augen, welches drastische Ausmaß gewalttätiger Antisemitismus in Deutschland auch heute noch annehmen kann.

Ich erinnere mich angesichts der aktuellen Debatten an den Mai 2021 zurück. Seinerzeit waren im arabischen Jerusalemer Stadtviertel Scheich Dscharrah von Palästinenser*innen bewohnte Häuser geräumt worden, weil Jüd*innen Anspruch darauf erhoben. Diese und andere Zusammenstöße führten zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas mit vielen zivilen Opfern. In Reaktion darauf fanden auch in Leipzig Demonstrationen statt. An einem Samstag im Mai 2021 stand ich auf dem Augustusplatz zwischen einer pro-palästinensischen und einer pro-israelischen Kundgebung. Die Stimmung war angespannt, es kam im Anschluss auch zu Handgemengen und auch zu gewalttätigen Angriffen. (*)

Damals war einer der Momente, in denen ich dachte: Ja, wir müssen interkulturell über das Problem des Antisemitismus und das Existenzrecht Israels sprechen. Die Gründung des Staates Israels als Konsequenz aus der Shoa, dem Genozid an 6 Millionen Jüdinnen und Juden, ist unverhandelbar. Anti-Antisemitismus ist nicht als „Staatsräson“ zentral, sondern muss aus humanistischer Perspektive unverhandelbarer Konsens unserer Gesellschaft sein – genau wie Antirassismus und ein glaubhaftes Einstehen gegen jegliche anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.

Schon im Mai 2021 war klar: Wir müssen miteinander ins Gespräch kommen. Wir müssen Räume für einen „interkulturellen Austausch“ schaffen, denn reine Konfrontation und Etikettierung bringen hier wenig weiter. Das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels, die aktive Erinnerung an den Holocaust, der Kampf gegen Antisemitismus – all das, was für uns emanzipatorische deutsche Linke ein Muss ist, muss im Diskurs mit neu dazugekommenen Menschen, die eben oft andere Erfahrungen, Sozialisationen und auch eine andere Lesart der Geschichte haben, einen Platz finden.

Dazu bedarf es Zuhören und Respekt auf beiden Seiten. Hierzu gehört auch, Fehler zuzulassen und im gemeinsamen Prozess zu eindeutigen, verbindenden Standards zu kommen. Dazu verlangt es weiterhin, die Erfahrungen individueller Menschen anzuerkennen und ernst zu nehmen – und das tun wir als europäisch sozialisierte Menschen in vielen Belangen zu wenig, nicht nur in Bezug auf Israel, sondern auch hinsichtlich kolonialer Erfahrungen und westlichem Agieren im globalen Süden. Damit dies gelingt, braucht es Bildung, Debattenräume, Vertrauen.

Definitiv nicht wird dies Hand in Hand mit ideologisierten autoritären Akteuren funktionieren, für die Israel und die USA der Inbegriff des Bösen und Terrororganisationen wie die Hamas koloniale Befreiungsbewegungen darstellen. Antisemitischer Terror hat nicht mit antikolonialen Kämpfen zu tun! Aber auch das emotional schnell über die Lippen gehende Labeling des militärischen Agierens Israels in Gaza als „Genozid“ trägt ebenso wenig zu einer sachlichen Debatte bei, wie das Anprangern der Vertreibung von Palästinenser*innen sofort unter Antisemitismus-Verdacht zu stellen.

Das Massaker am 7. Oktober hat Israel verändert; der legitime, aber in seiner Form völkerrechtlich zweifelhafte Gegenschlag hat das Leben in Gaza noch weiter zur humanitären Katastrophe gemacht. Nach Jahrzehnten der Gewalt sind dies einmal mehr Gründe, für einen wirklichen, gerechten Frieden einzustehen – sowie für eine Zukunft ohne die Hamas und ohne die extrem rechte Regierung unter Netanjahu, die den Konflikt durch Unterstützung von Siedler*innen, der reinen Verwaltung der Auseinandersetzungen mit der Hamas und innenpolitischen Entdemokratisierungsschritten in letzter Zeit zweifelsohne zugespitzt hat.
Die Hoffnung auf Frieden, auf ein Zusammenleben in Würde, sollte nicht aufgegeben werden. Und das auch hier vor Ort zu leben, das ist an uns.

November 2023

* Ich wurde darauf hingewiesen, dass es im Nachgang zu den Kundgebungen am 15. Mai 2021 zu tätlichen Angriffen kam, bei denen auch ehemalige Teilnehmende der Israel-solidarischen Kundgebung verletzt wurden.

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