Manchen gilt es als Utopie, anderen als revolutionäre Reformierung: Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Nicht nur Linke und die Gewerkschaften diskutieren seit Jahren über diesen spannenden Politikansatz. „Links!“ sprach nach der Konferenz „Arbeit und Existenzsicherung im demokratischen Sozialstaat“ der Landesarbeitsgemeinschaften Grundeinkommen und Betrieb & Gewerkschaft mit der Leipziger Stadträtin Juliane Nagel und dem ver.di-Gewerkschafter Klaus Tischendorf (beide DIE LINKE).
Wie sieht die Zukunft der Arbeitsgesellschaft aus?
Tischendorf: Die Frage lautet zunächst, wie die Arbeitsgesellschaft derzeit aussieht. Haben wir eine Vision? Wir haben ja viele Prozesse, die sich ändern. Die Frage wird sein, ob und wie man in Zukunft überhaupt an gesellschaftlichen Prozessen wird teilhaben können. Die Gewerkschaften müssen diese beachten, während sie für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen kämpfen. Deshalb halte ich eine Debatte über das BGE, gerechten Lohn und gerechte Arbeit für wichtig.
Nagel: Das ist richtig. Wir müssen anerkennen, dass sich die Erwerbsarbeitsgesellschaft grundlegend wandelt. Das hat einerseits mit der Umwälzung von Produktionsprozessen durch Computerisierung, dem Bedeutungsgewinn immaterieller Arbeit und andererseits mit der politischen Reaktion auf diese Prozesse zu tun. Wir müssen als Linke die grundsätzliche Frage nach dem Sinn von Erwerbsarbeit stellen: Ist das Abschmelzen klassischer Industriearbeit nicht auch eine Entlastung, bedeutet die Automatisierung nicht einen Gewinn an Freiheit? Ist es nicht im Sinne einer sozialistischen Linken, sich für eine bedingungslose soziale Sicherung aller Menschen einzusetzen und damit das Diktum des Arbeitszwangs im Kapitalismus zu durchbrechen?
Also müssen sich die Gewerkschaften vom Glauben an die Wiederherstellung der Vollzeiterwerbsgesellschaft verabschieden.
Nagel: Ja. Die Produktivität hat sich seit den 1970er Jahren verdoppelt, während die Pro-Kopf-Arbeitszeit sich um mindestens ein Viertel reduziert hat. Vierzigjährige, ungebrochene Erwerbsbiografien sind nicht mehr möglich, nötig und auch nicht wünschenswert. Jedem und jeder muss ein Leben mit möglichst viel Freiheit und Veränderungsoptionen inklusive einer ausreichenden sozialen Grundabsicherung ermöglicht werden. Die herrschende Politik aber baut den Niedriglohnsektor aus, verlängert die Lebensarbeitszeit und erhöht den Druck auf Erwerbslose. Wir brauchen den Abwehrkampf gegen den fortschreitenden Sozialabbau und die Entmündigung von Menschen. Es gibt aus unserer Sicht viele Schnittmengen zwischen gewerkschaftlichen Kämpfen und denen der BGE-BefürworterInnen.
Tischendorf: Was heißt denn Vollzeiterwerbsgesellschaft? Heißt Vollzeitarbeit: acht Stunden arbeiten, oder weniger? Heißt es: zusammenhängende Arbeitsprozesse, oder Arbeit nur, wenn man gerade gebraucht wird? Wenn man sich die Diskussion um Arbeitszeitkonten ansieht oder die darüber, wie man jungen Müttern den Wiedereinstieg ins Erwerbsleben ermöglicht, wird klar: Da wird es große Veränderungen geben, und ich habe Bedenken, ob das Mindesteinkommen ausreichen würde, für alle diese Probleme die Lösung zu sein.
Wie ist aktuell der Stand der Debatte?
Tischendorf: Das Ergebnis der Konferenz ist, dass man miteinander spricht. In unserem Bundesparteiprogramm von 2010 haben wir als Kompromiss einen Abschnitt drin, der besagt, dass „Teile der Partei“ die Idee des BGE vertreten. In Sachsen diskutieren wir den Entwurf der sozialpolitischen Leitlinien, wo formuliert werden soll, dass „viele“ diese Idee verfolgen. Das war für uns als Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft der Anstoß, endlich darüber zu reden und das Thema nicht auf dem Parteitag in einer Kampfabstimmung wegzubeschließen. Das ist in den letzten Jahren steckengeblieben, und das wollen wir aus Sachsen heraus wieder aufgreifen.
Nagel: In der Debatte um die Sozialpolitischen Leitlinien ist die Positionierung zum BGE ein Knackpunkt gewesen. Uns ist aufgefallen, dass dabei auch viel mit falschen Vermutungen gegen das BGE hantiert wurde, außerdem schienen die Fronten zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen verhärtet. Einen Raum zu schaffen, um ins Gespräch zu kommen, war aus Sicht unserer Landesarbeitsgemeinschaften und des Landesvorstandes der erste wichtige Schritt.
War man nicht eigentlich schon weiter? Im „Alternativen Landesentwicklungskonzept für den Freistaat Sachsen (ALEKSA)“ der PDS-Fraktion von 2004 stand zum Beispiel: „Es ist notwendig, dass in der Bundesrepublik mittelfristig für alle Bürgerinnen und Bürger ein Grundeinkommen durchgesetzt wird“.
Tischendorf: Damals haben wir das reingeschrieben, aber nicht über die Ausgestaltung gesprochen. Da sind wir jetzt weiter, auch weil diejenigen für diese Ideen gewonnen werden müssen, die das Bruttosozialprodukt erarbeiten. Bislang sagen viele in den Gewerkschaften noch, dass man sich zwar an den Debatten beteiligen, aber keine Arbeitsgruppen oder Ähnliches gründen möchte. Die Klientel der Gewerkschaften sind nach wie vor die Beschäftigten, deren Situation auch kurzfristig verändert werden muss, und die Arbeitssuchenden. Ich denke aber, dass beides zusammengehört, die Diskussion über das BGE und die über die Situation der Beschäftigten und Arbeitslosen. Man kann natürlich nicht sagen, dass mit dem Grundeinkommen alle Probleme gelöst sind – genauso wie man die Idee umgekehrt auch nicht einfach als Utopie abtun kann. Zumal es zwischen Befürwortern und Zweifelnden sehr viel Übereinstimmung gibt – etwa beim Mindestlohn oder den Hartz-IV-Sanktionen. Man muss eine kulturvolle Diskussion hinbekommen.
Nagel: Die Idee des BGE hat ihre Wurzeln im aufklärerisch-humanistischen Denken des 18. Jahrhunderts – kein Wunder also, dass es in einem visionären Landesentwicklungsprogramm der PDS auftaucht. Spätestens seit den 1980er Jahren wird sie vielfach diskutiert. Auch die Debatte in den Gewerkschaften ist von vielen Mitgliedern ausdrücklich erwünscht, wird aber von den Gewerkschaftsspitzen eher zu deckeln versucht. Obwohl durch eine existenzsichernde Einkommensbasis und die damit verbundene Entlastung der ArbeitnehmerInnen vom Zwang, jeden denkbaren Job annehmen zu müssen, die Unternehmen zwangsläufig bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne anbieten müssen. Es geht auch um die grundsätzliche emanzipatorische Umwälzung der Produktionsverhältnisse.
Beim Grundeinkommen werden viele Modelle diskutiert. Wird inzwischen ein bestimmtes mehrheitsfähig?
Nagel: Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Grundeinkommen der LINKEN hat 2009 ein Modell verabschiedet. Es liegt bei 1000 Euro monatlich für Erwachsene und 500 für Kinder bis 16 Jahre und basiert zunächst auf einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Zur Finanzierung wird eine Grundeinkommensabgabe von 35 % auf alle Einkommen erhoben, hinzu kommen eine Börsenumsatzabgabe, eine Sachkapital-, Primärenergie-, Finanztransaktions- und eine Luxusabgabe. Steuerfinanzierte Sozialleistungen (Hartz IV, Kindergeld, BAföG) sowie die Bürokratie zur Verwaltung und Überwachung von Erwerbslosen entfallen, die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung werden zu einer BürgerInnenversicherung, die Arbeitslosenversicherung zu einer Erwerbslosenversicherung um- und ausgebaut. Hinzu käme die Realisierung eines Anspruches auf Zugang zu öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen wie Kultur, Bildung und Mobilität sowie die grundsätzliche Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche.
Tischendorf: Das Spannende bei der Konferenz war für mich die Erkenntnis, dass wir nicht über irgendein Modell reden, sondern über das, was die BAG Grundeinkommen vorgestellt hat. Es gibt ganz unterschiedliche Modelle, auch konservative. Ich finde, man sollte das von der BAG vorgelegte Modell als Diskussionsgrundlage nehmen.
Wie soll es nun weitergehen?
Tischendorf: Zur Konferenz soll es einen Reader geben, in dem offene Fragen und Widersprüche enthalten sind. Man sollte die Debatte weiterführen. Wir als BAG Betrieb & Gewerkschaft wollen im nächsten Jahr eine Konferenz zum Thema „Gute Arbeit“ organisieren und auch die Befürworter des BGE dazu einladen.
Nagel: Wir nehmen in Sachsen die Formulierung des Parteiprogrammes ernst, das sich ausdrücklich zur Weiterführung der innerparteilichen Debatte über das BGE bekennt. Diese mündet aber auch irgendwann in einer Positionierung. In dem Sinne würden wir uns natürlich freuen, wenn sich der Landesparteitag im Oktober auch zum Modell des BGE als linker, zukunftsorientierter Option der sozialen Sicherung und Demokratisierung der Gesellschaft bekennen würde.
Die Fragen stellten Rico Schubert und Kevin Reißig.
heißt dass, dass ich 35% einkommenssteuer auf meinen lohn bezahlen müsste? pauschal ohne staffelung nach der höhe des einkommens? ich glaub, dann würden viele leute miese machen :-)