Interview zum Prozess gegen die Mörder von Kamal K., erschienen in ak – analyse & kritik Nr. 563 vom 19.8.2011 In der Nacht auf den 24. Oktober 2010 wurde der 19-jährige Iraker Kamal K. nahe des Leipziger Hauptbahnhofs erstochen. Die beiden Täter, Marcus E. und Daniel K., gehören der Neonaziszene an; Polizei und Staatsanwaltschaft leugneten jedoch lange Zeit ein ausländerfeindliches Tatmotiv. Am 8. Juli wurde Marcus E. zu 13 Jahren Haft wegen Mord aus niedrigen Beweggründen mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, Daniel K. zu drei Jahren Haft wegen gefährlicher Körperverletzung. Damit folgte das Gericht in weiten Teilen dem Antrag der Nebenklage, die die Interessen der Familie des Ermordeten vertreten und eine Anerkennung des rassistischen Motivs gefordert hatte. ak sprach mit Jule und Harry vom Initiativkreis Antirassismus, der den Prozess am Landgericht Leipzig kritisch begleitete.
ak: Wie bewertet ihr den Prozessverlauf und das Urteil?
Jule: Genauso wie die Familie von Kamal und andere Prozessbeobachter und -beobachterinnen waren wir erstaunt über das Urteil. Mit der expliziten Würdigung des rassistischen Tatmotivs durch das Schwurgericht hatte tatsächlich niemand gerechnet – gerade aufgrund einschlägiger Erfahrungen mit derartigen Fällen, bei denen sich Behörden und Gerichte eher durch Leugnen und Ausblenden von neonazistischen Hintergründen von Tätern und Täterinnen hervorgetan haben. Im Endeffekt drehte sich die Kernfrage darum, ob zwei erwiesene Neonazis Parolen rufen müssen, während sie auf einen Migranten einschlagen bzw. einstechen, oder ob bereits ihr politischer Hintergrund verbunden mit aggressiver Angriffslust ausreicht, um ein rassistisches Tatmotiv nachzuweisen. Allerdings wurde schon im Prozessverlauf klar, dass der zuständige Richter sehr intensiv auf die Argumente und Fragen der Rechtsanwälte eingeging, die die Interessen von Kamals Mutter und seinen zwei Brüdern in der Nebenklage vertraten. Eindrucksvoll war auch eine Stellungnahme der Mutter von Kamal, die am vorletzten Prozesstag verlesen wurde. Darin schildert sie, wie die Familie nach dem Tod zum Teil in den Medien, der Bevölkerung, aber auch von Behörden wie Täter behandelt wurden und wie sie immer wieder mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert sind.
Ihr habt vor allem die Rolle der Polizei in dem Prozess kritisiert, die den neonazistischen Hintergrund der Täter bagatellisiert oder willentlich ignoriert habe. Woran zeigte sich das im Verlauf der Ermittlungen und im Prozess?
Harry: Wenige Wochen nach dem Mord ließ die Staatsanwaltschaft öffentlich verkünden, dass es keine Anzeichen für ein rassistisches Tatmotiv gebe. Damals wurde auch Daniel K. aus der U-Haft entlassen. Dies war Resultat einer gelinde gesagt oberflächlichen polizeilichen Ermittlungsarbeit. Zahlreiche Anhaltspunkte, die in Richtung eines rassistischen Tatmotivs wiesen, wurden ignoriert, die Einlassungen des einen Tatverdächtigen, Daniel K., blieben unhinterfragt und anscheinend zu einem gewissen Teil ungeprüft. Um es anschaulich zu machen ein paar Beispiele: Daniel K. hat direkt nach seiner Festnahme nahe des Tatortes freiwillig ausgesagt, dass er „eine Auseinandersetzung mit Ausländern“ hatte. Er wusste also sehr wohl, wer sein Opfer war. Die Polizei schätzte dies offensichtlich nicht als relevantes Indiz ein. Im Lauf der Verhandlung wurde auch immer wieder versucht nachzuweisen, dass es am Tatort so dunkel war, dass der Migrationshintergrund von Kamal nicht erkennbar gewesen sei. Dies wurde vor Gericht widerlegt. Zahlreiche Polizeizeugen mochten sich auch nicht an die Tätowierungen von Marcus E. und Daniel K. erinnern oder sie aus „Neutralitätspflicht-Gründen“ nicht einordnen. Dabei sind bei beiden große Hakenkreuze, bei Daniel K. SS-Runen und bei Markus E. ein Reichsadler, Slogans wie „Ku-Klux-Clan“ oder „Rassenhass“ mehr als deutlich zu erkennen. Der ermittlungsführende Polizeibeamte betete vor Gericht zudem die Einlassungen von Daniel K. unhinterfragt herunter. Demnach sei dieser in Aachen über das Fußballmilieu in die rechte Szene reingerutscht und habe mit dieser schon längst gebrochen. Die Aussage eines Zeugen, den auch die Polizei vernommen hatte, machte dagegen deutlich, dass Daniel K. schon vor seinem Umzug nach Aachen Anfang der 2000er Jahre in der Naziszene in Leipzig unterwegs war. Diesen Widerspruch und damit die Unglaubwürdigkeit dieses Selbstentlastungsversuchs hätte auch die Polizei realisieren müssen. Auch dass beide Täter während der Tat von oben bis unten mit Thor-Steinar-Klamotten bekleidet waren und Daniel K. zudem ein Shirt mit dem Aufdruck „Kick off Antifascism“ trug, führte nicht dazu, dass die Polizei die Gesinnung der beiden als relevantes Motiv für den Mord in Betracht zog.
In der Urteilsbegründung wird das rassistische Tatmotiv eindeutig anerkannt, das Staatsanwaltschaft und Mainstream-Medien vielfach geleugnet hatten. Ihr habt darauf hingewiesen, dass auch die offiziellen Statistiken diesbezüglich oft sehr lückenhaft sind und dass die Bundesregierung von über 150 Todesopfern rechter Gewalt nur 47 als solche zählt. Habt ihr die Hoffnung, dass das Urteil hier eine gewisse Signalwirkung hat?
J.: Davon gehen wir aus. Das Urteil sollte nun auch dazu führen, dass Kamal offiziell als Opfer rechts motivierter Gewalt anerkannt wird. Die Kernfrage war wie gesagt, ob nur die Äußerungen der Täter, z.B. rassistische Beschimpfungen, ein solches Motiv belegen. Das hat der Richter klar verneint. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, den Tathergang und auch die Hintergründe und Einstellungen möglicher Täter oder Täterinnen intensiv zu beleuchten. Nichts anderes sagt die Definition des Bundesinnenministeriums für politisch motivierte Kriminalität, die 2001 aufgrund öffentlichen Drucks reformiert wurde: nämlich, dass die „Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters“ gewürdigt werden müssen. Wenn die Ermittlungsbehörden auch danach handeln würden, gäbe es die krasse Differenz vielleicht auch nicht zwischen offiziellen Zahlen und denen, die von Journalisten und Journalistinnen und zivilgesellschaftlichen Akteuren recherchiert wurden. Ein anderes Problem ist, dass bestimmte potenzielle Opfer, zum Beispiel Homosexuelle oder sozial Benachteiligte, stärker aus dem Fokus fallen als Migranten und Migrantinnen oder Menschen, die sich offensiv gegen Nazis positionieren. Wir wollen diese Opfergruppen nicht gegeneinander ausspielen. Vielmehr denken wir, dass die gesamte Bandbreite von Diskriminierung stärkere Beachtung finden muss. Und es ist ja kein Geheimnis, dass die neonazistische Gewalt sich in ein gesellschaftliches Klima einbettet, in dem Menschen per Gesetz und im Alltag ausgegrenzt und diskriminiert werden.
Der Mord an Kamal K. reiht sich in eine Reihe von Taten mit menschenverachtenden, sozialdarwinistischen und rechten Motiven in Sachsen ein. Erst Ende Mai wurde ein Obdachloser von zum Teil in der rechten Szene aktiven Tätern so schwer zusammengeschlagen, dass er wenige Tage später starb. Letztes Jahr zeigte eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, wie weit verbreitet rechte Einstellungen auch in der „Mehrheitsgesellschaft“ sind. Werden Schläger wie Marcus E. und Daniel K. dadurch zu ihren Taten ermutigt?
H.: Ja. Ohne pauschalisieren zu wollen, ist stark anzunehmen, dass sich viele Gewalttäter als Vollstrecker des gesellschaftlichen Willens sehen. Schaut man auf die Reaktionen von Politik und Justiz auf Morde an Migrantinnen und Migranten und auch an einem Homosexuellen in Leipzig in den 1990er Jahren, lässt sich klar ausmachen: Hier wurde geleugnet und klein geredet mit dem Zweck, das Image der Stadt nicht zu beschädigen. So sagte ein ehemaliger Oberbürgermeister von Leipzig in einer Zeit, in der Nazis in hohem Maße aktiv waren, dass es in seiner Stadt doch keine Nazis gäbe. Und ein Ausländerbeauftragter sagte, dass es anstelle des Asylbewerbers Achmed Bachir, der 1996 von Nazis erstochen wurde, jeden hätte treffen können. Mit solchen Aussagen wird ganz deutlich, dass die Gesellschaft und insbesondere politisch Verantwortliche gar nicht realisieren oder benennen wollen, dass es menschenverachtende und diskriminierende Einstellungen gibt, die dann in solche Gewalt münden kann, die für die Betroffenen tödlich endet. Genau das ermutigt Täter.
Interview: Sarah Lempp