Schulabstinenz ist kein ordnungspolitisches, sondern ein sozialpolitisches Problem

Die CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat will dem „Gesetzesverstoß Schulpflichtverletzung konsequent(er) entgegentreten“. Die ordnungsrechtlichen Handlungsmöglichkeiten seien in den letzten Jahren vernachlässigt worden.
In der Stadtratssitzung am 17. Juni 2015 erntete die CDU Widerspruch.

Meine Rede zum Änderungsantrag der Fraktionen Bündnis 90/ Die Grünen, LINKE und SPD zum Antrag der CDU:

Schulmüdigkeit und Schulverweigerung sind Probleme, daran gibt es nichts zu deuteln. Die Zahlen zeigen rein quantitativ einen Aufwärtstrend. Im Jahr 2013 waren es 1440 und im Folgejahr 1787 Verstöße gegen die Schulfplicht. Diese Zahlen sind allerdings vor dem Hintergrund steigender SchülerInnen zu denken.

Wir sehen das Problem jedoch nicht wie sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, als ordnungspolitisches, sondern sozialpolitisches Problem. Das zeigt sich auch daran, dass in Mittel- und Oberschulen die Zahlen mit Abstand höher sind als an Gymnasien.

Reden wir über Schulverweigerung müssen wir verschiedene Ursachen betrachten: es sind soziale Verwerfungen, überforderte Eltern, ausgebrannte LehrerInnen, aber auch ein starres und selektives Schulsystem, das die Förderung der oder des Einzelnen verunmöglicht. Schauen wir uns die Statistiken der SchulabbrecherInnen an – eine mögliche Konsequenz von Schulabstinenz – fällt ins Auge, dass in den Stadtbezirken mit den höchsten Anteilen an Sozialhilfe/ ALG II-EmpfängerInnen, auch diese Quote steigt. Soziale Armut korrespondiert in hohem Maße mit Bildungsbenachteiligung. Und diese Menschen, die unsere Unterstützung bedürfen, wollen sie mit ihrem Antrag nun auch noch diskreditieren.

Wir halten in Leipzig verschiedene Maßnahmen vor, die Schulmüdigkeit – also im frühen Stadium sich abzeichnende Schuldistanz – und Schulverweigerung als verfestigtes Verhalten entgegenwirken: Schul- oder andere Formen von Sozialarbeit, Familienarbeit oder weitergehend Schulverweigerungsprojekte wie Take off oder Youth start. Und es werden auch Ordnungs- und Disziplinarmaßnahmen eingeleitet, und zwar nach dem fünften Tag des unentschuldigten Fehlens

Sie, KollegInnen von der CDU, fokussieren mit ihrem Antrag auf das ordnungspolitische Instrument. Aber was wollen sie eigentlich? Dass schon der erste Fehltag zur Restriktionen führt?

Ein solches Verfahren, eine noch früher ansetzende Sanktionierung anstelle den in der Verwaltungsvorschrift des Freistaates vorgesehenen Sensibilisierungsmaßnahmen, kann aus unserer Sicht eher nach hinten losgehen und Angst und Verweigerungshaltungen der Kinder und Jugendlichen verstärken. Und das liebe Kolleginnen und Kollegen kann doch nicht in unserem Sinne sein.

Wir müssen Schuldistanz und -abstinenz als gesamtgesellschaftliches Problem und nicht reduziert durch eine ordnungspolitische Brille betrachten. In diesem Zusammenhang will ich auf den Erziehungswissenschaftler Prof. Wolfgang Schröer zurückgreifen, der im Rahmen einer Fachtagung „Prävention Schulverweigerung“ vor ein paar Jahren in Leipzig darauf hinwies, dass Schulbildung zu wenig auf die Veränderung von Jugend eingestellt sei. Die Jugend als  Lebensphase wird kaum mehr thematisiert und wenn, dann wird sie vom Ende her gedacht und Schulbildung weitgehend auf die Ermöglichung von Erwerbskarrieren reduziert. Schulverweigerung erschiene vor diesem Hintergrund als Sinnbild einer neuen Ungleichheit. Notwendig seien, so Schoer, inklusive Bildungsformen, die es ermöglichen, das Selbstwertgefühl Jugendlicher zu fördern sowie ihren informellen Bildungsweg angemessen zu berücksichtigen. Zudem sprach er sich für eine Stabilisierung der Jugendsozialarbeit im Kontext Schule aus.

Daraus können wir glasklare Konsequenzen ziehen: die Verstetigung und Ausfinanzierung von Schulsozialarbeit und Projekten, die sich auf die Problematik Schulverweigerung spezialisiert haben.

Und noch mehr: lassen sie uns der Komplexität des Themas gerecht werden und verschiedene Hilfeansätze in den Blick nehmen und stärken. Insbesondere die hier im Rat vertretenen Fraktionen, die auch auf Landesebene Regierungsverantwortung tragen, sind zudem gefragt endlich einen bildungspolitischen Paradigmenwechsel einzuleiten und das stark selektive sächsische Schulsystem zugunsten eines längeren gemeinsamen Lernens und zeitgemässer Bildungsformen und -inhalte zu verändern.

Rede zum Änderungsantrag von Grünen/ LINKE/ SPD zum Antrag der CDU „Maßnahmen gegen Schulpflichtverweigerung“

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