Interview mit Oliver Reiner, Sprecher der AG Freie Träger der Jugendhilfe in Leipzig (AGFT) und Geschäftsführer des Soziokulturellen Zentrums „Die VILLA“, zur Situation der Jugendhilfe in Leipzig, Konsequenzen aus der Unterfinanzierung von Trägern und Wünschen für die Zukunft.
Auch 2011 protestierten Träger der Jugendhilfe in Leipzig gegen die Unterfinanzierung ihrer Arbeit. Der Haushaltsansatz für den Jugendetats 2012 lag auf dem Niveau des Vorjahres und zementierte damit die Kürzungen durch die Absenkung der Jugendpauschale des Freistaats Sachsen und ließ zudem Kostensteigerungen bei bestehenden Projekten außer Acht. Neue Angebote hatten kaum eine Chance in den Genuss einer Förderung zu kommen. Der Leipziger Jugendhilfeausschuß beantragte vor diesem Hintergrund den Etat zur Förderung freier Träger um 500.000 Euro anzuheben. Der Stadtrat konnte sich nur zu einer Erhöhung um 100.000 Euro durchringen.
Löwenzahn: Wie schätzen Sie die Situation in der Kinder- und Jugendarbeit in der Stadt Leipzig ein?
Oliver Reiner: Wir haben in Leipzig entgegenläufige Entwicklungen: Es gibt viele ermutigende Dinge, wie zum Beispiel die Ausweitung der Schulsozialarbeit oder auch neue Angebote der Elternbildung in Kitas. Bei den Freizeitangeboten, die bildend und vor allem auch präventiv wirken sollten, haben wir nur noch theoretisch ein gutes Netz. Gerade diese Projekte der Jugendförderung sind in den letzten Jahren so vernachlässigt worden, dass sie bei Weitem nicht mehr das bewirken können, was sie sollten. Entsprechend rutschen uns immer mehr Kinder durchs „Raster“. Die Sozialarbeiter in den Hilfen zur Erziehung sagen, dass die Fälle zu denen sie gerufen werden, immer schwierigerer und komplexerer werden.
Wo gibt es die größten Probleme? Wie wirken sich diese auf die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen aus?
Nachhaltige Jugendarbeit ist Beziehungsarbeit. Die einzige Stellschraube, die freie Träger der Jugendhilfe beim Sparen noch haben, sind die Gehälter ihrer Fachkräfte – die aber auch ihr ganzes Kapital sind. Wie sollen die Mitarbeiter Kindern und Jugendlichen stabile Beziehungen und Sicherheit vermitteln, wenn ständige Unsicherheit ihr eigenes Erwerbsumfeld prägt? Die Qualität in der Jugendhilfe steht und fällt mit motivierten Fachkräften.
Leipzig hat sich 2006 heimlich aufgrund von Sparvorgaben von den bis dahin gemeinsam mit den freien Trägern vereinbarten fachlichen Mindeststandards für die Jugendhilfe verabschiedet. Die Förderung vieler Projekte wurde damals um mehr als 10 % zusammengestrichen. Es wurden zwar oft Verbesserungen angekündigt, bei den Projekten angekommen ist nichts. Praktisch sollen 2012 wieder sehr viele Projekte noch einmal deutlich weniger Geld bekommen als nach der großen Kürzung 2006. In der selben Zeit sind gerade die Betriebskosten, die an städtische Tochtergesellschaften oder die Stadt direkt fließen, deutlich gestiegen – wie Strom, Wasser, Fernwärme, Müllentsorgung und auch die Grundsteuer. Diese ganzen Mehrkosten konnten die Träger nur durch einen überproportionalen Abbau von Fachkräften ausgleichen.
Gleichzeit stiegen die Anforderungen für Qualitäts-Dokumentationen. So wurden standardisierte Konzept- und Sachberichtsraster und detaillierte monatliche Besucherstatistiken eingeführt. Aktuelle Entwicklungen führten außerdem zu neuen Netzwerken (Kinderschutz, Gewaltprävention etc.). Hierfür wird zusätzlich Arbeitszeit der Fachkräfte gebunden. Die tatsächliche Zeit, die Sozialarbeiter für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen haben, sank dadurch noch weiter. In den meisten Projekten hat sich diese Zeit so innerhalb von sieben Jahren halbiert.
Und ich kann kein Ende dieser Entwicklung entdecken: Der aktuelle Entwurf des Fachplans, der nächstes Jahr beschlossen werden soll, sieht eine Reihe neuer Arbeitskreise vor, für die Koordinationsstellen eingerichtet werden sollen. Diese werden Geld kosten, was wieder bei den Inhalten weggespart werden muss. Die Fachkräfte werden dann auch diese Gremien besuchen müssen und so noch weniger Zeit für ihre eigentliche Arbeit haben.
Viele Träger haben in der Vergangenheit versucht, durch den breiten Einsatz von Kommunalkombi-Stellen und sogenannten Arbeitsgelegenheiten die Situation wenigstens ein bisschen zu entspannen. Mehr als jeder dritte Mitarbeiter wird derzeit über solche Maßnahmen finanziert. 2012 werden sie fast komplett auslaufen. Wirkliche Alternativen sind nicht in Sicht.
Für die Kinder und Jugendlichen wird es im nächsten Jahr also noch einmal deutlich weniger sozialpädagogisch betreute Angebote geben, Jugendtreffs werden ihre Öffnungszeiten reduzieren müssen und viele Kurse oder Projekte wird es dann nicht mehr geben können.
Welche Rahmenbedingungen sind denn aus ihrer Sicht erforderlich, um für die Zukunft eine hohe Fachlichkeit und Qualität in der Kinderund Jugendarbeit zu sichern?
Wir müssen dahin kommen, dass alle Jugendeinrichtungen in Leipzig wirkungsvolle Präventions- und Bildungsarbeit leisten können. Dazu müssen wieder verbindliche fachliche Qualitätsstandards auch für die Ausstattung der Einrichtungen eingeführt und vor allem eingehalten werden. Nur so können die Einrichtungen den notwendigen Stamm an Fachpersonal aufbauen. Um die Kosten dafür im Griff zu halten, sollten wir daran arbeiten, Verwaltungsaufgaben auf das nötige Minimum zu reduzieren.
Das derzeitigen Verfahren der jährlichen Projektförderung bindet sowohl in der Verwaltung als auch im Jugendhilfeausschuss und auch bei den Jugendeinrichtungen sehr viel Kraft. Wenn wir hier auf mittelfristige Instrumente umstellen, würden so Ressourcen für die notwendige Stärkung der Qualität frei, ohne dass dafür zusätzliche Finanzen benötigt werden.
Wir werden aber auch eine Jugendhilfeplanung benötigen, die verschiedene Szenarien beschreibt und dem Stadtrat einen Entscheidungsraum gibt und ihm so eine wirkliche inhaltliche Gestaltung der Jugendarbeit in Leipzig außerhalb der Haushaltsverhandlungen ermöglicht.
Fragen: Juliane Nagel und Rüdiger Ulrich
Erschienen in: Löwenzahn, Mitteilungsblatt der Fraktion DIE LINKE im Stadtrat zu Leipzig, 1/ 2012