Phase 2 – Die Zeitschrift gegen die Realität hat mich eingeladen zum Thema „Wählen gehen oder nicht wählen gehen?“ zu schreiben. Ich plädiere dafür, mit der eigenen Stimme dazu beizutragen, den trotz allem möglichen bundespolitischen Szenenwechsel hin zu einer Mitte-Links-Regierung aus Grünen, SPD und der Linken zu ermöglichen.
2019 grassierte vielerorts die Angst vor einem Wahlsieg der AfD bei der Landtagswahl in Sachsen, nachdem bei der vorigen Bundestagswahl die hier offen extrem rechts auftretende Partei tatsächlich knapp die CDU überflügeln konnte und jede vierte Zweitstimme sowie drei Direktmandate einfuhr. Um sich einem weiteren Rechtsruck zumindest im Landesparlament entgegenzustellen, wählten viele Menschen in Sachsen, die die Demokratie als etwas Erhaltenswertes ansahen, gegen die eigentliche persönliche Parteipräferenz die CDU, zur vermeintlichen Stärkung des eigentlich schon damals löchrigen Bollwerk gegen die AfD. Knapp zwei Jahre später lässt sich konstatieren, dass der Rechtsruck auch ohne AfD in der Regierung weiter seinen Gang geht. Auch die Grünen und die SPD als Koalitionspartnerinnen setzen dem wenig entgegen und tragen die seit jeher unter Alleinkommando der CDU in Sachsen betriebene autoritäre Law-and-Order-Politik mehr oder weniger widerwillig mit. War es also zwecklos, in Sachsen überhaupt zu versuchen, als linke Minderheit etwas an den parlamentarischen Verhältnissen mittels Wahlaufrufen und taktischem Wählen zu verändern? Ist es vielleicht ein der Zeit entsprechendes Übel, die eigene Stimme lieber der CDU zu geben, ehe diese noch mehr mit einer Zusammenarbeit mit der AfD liebäugelt und dabei weiter munter Freiheiten der liberalen Demokratie über Bord wirft? Und gibt es überhaupt eine realistische, emanzipatorische Alternative, die die (radikale) Linke aus besseren Gründen als taktischem Wählen zum Urnengang aufrufen könnte?
Für die nahende Bundestagswahl zeichnet sich ein möglicher Regierungswechsel ab. Während die Sozialdemokratie einen langsamen Tod stirbt, dienen sich die Grünen als neue Koalitionspartnerin der CDU an. Die nationalautoritäre, vielerorts faschistoide AfD konzentriert sich vor allem auf Wahlerfolge im Osten und auf ihr Revival als stärkste Oppositionskraft im Bundestag. Die Linkspartei dümpelt über der Fünf-Prozent-Marke herum und lässt sich – wiederum entfacht von den nationalistischen Tönen einer Sahra Wagenknecht – dumm machen. Ein Bündnis der Mitte-Links-Parteien scheint im Moment weder rechnerisch noch inhaltlich möglich.
Ich finde nichtsdestotrotz und vor allem: Nicht wählen nützt auch nichts! Zumal sich einschneidende politische Veränderungen schon seit jeher nicht im Vorfeld einer Wahl vorhersehen oder ausschließen ließen.
Aber der Reihe nach:
1. Wahlenthaltung als grundsätzlicher Ausdruck einer linksradikalen Haltung war vielleicht in den Zeiten überzeugend, als durchschlagskräftige soziale und politische Bewegungen gesellschaftliche Debatten wirklich autonom bestimmten, eine grundlegende gesellschaftsverändernde Agenda hatten und selbstbewusst und stark aufgestellt waren. Wo vormals eine starke Anti-Atombewegung auftrat, die ihre Ziele auch mit militanten Mitteln und protegiert durch Teile der Bevölkerung durchsetzte, wo die 1968er offensiv für Entnazifizierung, soziale Reformen und kulturelle Emanzipation kämpften, wo linksradikale Antifaschist:innen einen bundesweiten Organisierungsprozess begannen, sind heute Leerstellen. Zwar finden sich in der dezentralen Mieter:innenbewegung durchaus wirkungsvolle, selbstorganisierte Momente, aber Initiativen wie Fridays for Future oder die Seebrücke sind im Grunde stärker auf Veränderungen durch Parlamentsbeschlüsse angelegt und agieren stark mit Mechanismen des Lobbying in Richtung der institutionalisierten Politik. Kampagnenförmige Aktionen wie Unteilbar bleiben in ihrer Ausrichtung diffus und entbehren einer grundlegend gesellschaftsverändernden Linie. Linksradikale (Anti-)Politiken sind heute stark diffundiert, kleinteilig und vereinzelt – in jedem Fall erfüllen sie nicht die Charakteristika einer Bewegung.
Der Wahlakt kann für Linksradikale in diesen trüben Zeiten deshalb vor allem eines bedeuten: Gesellschaftsveränderung in größerem Maßstab zu denken und zumindest ein Votum dafür abzugeben, wenn die letzte Bastion nicht die ritualisierte lokale Demo, die vereinzelte Hausbesetzung oder der nächste kluge Text sein sollen.
2. Es stellt sich die Frage, ob es sich im Falle der Wahlentscheidung lohnt, das Kreuz derjenigen Partei zu geben, die im demokratischen Spektrum die größte Chance auf einen Wahlerfolg hat. So haben es bei den Landtagswahlen in Sachsen und Sachsen-Anhalt viele getan und ihr Votum für die CDU, ein kleinerer Teil wohl für Die Grünen mit Option zur Regierungsbeteiligung abgegeben. Als linXXnet hatten wir im sächsischen Landtagswahlkampf unter dem Motto »Hilft Arm-abhacken gegen die AfD?« dezidiert davor gewarnt. Wer sich für ein Kreuz bei der CDU entscheidet, wählt die, die den Faschist:innen inhaltlich und über ihr autoritäres Demokratieverständnis das Feld bereitet haben und die weiterhin das Getöse der AfD in Politik übersetzen, sei es in Form einer restriktiven Migrations- und Ordnungsgesetzgebung oder einer neoliberalen Wirtschafts- und antihumanen Sozialpolitik. Auch wenn sich der Spitzenkandidat der sächsischen CDU zu den Bundestagswahlen, Marco Wanderwitz, nach rechts abgrenzt, kann er nicht darüber hinwegtäuschen, dass es große Teile vor allem in der sächsischen CDU gibt, die lieber heute als morgen ihre kleinen Koalitionspartnerinnen von SPD und Grünen gegen die »Nationalkonservativen« austauschen würden. CDU und AfD sind von einem Fleische, das zeigt sich nicht zuletzt im Hass auf alles Linke, in Sachsen deutlich am extrem diskursbeschränkenden Extremismus-Modell, welches die CDU seit über dreißig Jahren mit harten Bandagen vor allem gegen Antifaschist:innen bemüht. Oder aber in Thüringen, wo die CDU mit aller Kraft die Wiederwahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten verhindern wollte und dabei auch auf die AfD zurückgriff.
3. Bündnisse kleinerer mitte-links-Parteien mit der CDU bringen wenig, das lässt sich anhand der sächsischen Realität prägnant aufzeigen. Die SPD hat inzwischen jedwedes Rückgrat verloren, die Grünen zeigen sich dafür auf Erfolgskurs. Es gibt winzige Kurskorrekturen, aber an die harten Themen im Land, vor allem Sicherheits-, Bildungs- und auch Asylpolitik, kommen sie nicht wirklich heran. Ein Paradigmenwechsel sieht anders aus.
Eine schwarz-grüne Regierung, die eventuell noch die SPD hinzuziehen muss, wird mit den Prinzipien neoliberaler Sozialstaatszerstörung und klimaschädlicher Wachstumsideologie nicht brechen wollen. Wer mit Schwarz-Grün oder Schwarz-Grün-Rot auf Bundesebene ein positiveres Image und das Durchfechten von identitätspolitischer Makulatur verbindet, wird dagegen nicht enttäuscht werden. Denn dazu ist auch die Bundes-CDU inzwischen bereit – Hauptsache, es nutzt dem Kapital.
Ich meine also: Wählen! Und zwar nicht vorrangig, um die AfD zu schwächen – denn erwiesenermaßen profitieren vor allem die Faschist:innen von der Mobilisierung der Nichtwähler:innen – aber ganz sicher auch nicht, um deren großer Schwester CDU aus falschen Gründen zu noch mehr Macht zu verhelfen.
Ich plädiere dafür, mit der eigenen Stimme dazu beizutragen, den trotz allem möglichen bundespolitischen Szenenwechsel hin zu einer Mitte-Links-Regierung aus Grünen, SPD und der Linken zu ermöglichen. Die eigene Stimme kann auch eine nachhaltige Investition in den Aufbau einer solidarischeren Gesellschaft sein, denn es geht auch darum Strukturen zu stärken, die mittels Stiftungen, offener Büros und Personalstellen die wenigen verbliebenen Freiräume für gesellschaftskritische Theorie und Praxis sichern und grundlegende Fragen nach Gleichheit, Freiheit und Solidarität weit über Reden, Anfragen und Anträge in den Parlamenten hinaus immer und immer wieder auf die politische Agenda heben. Von einer krachenden Niederlage oder auch nur Schwächung der parlamentarischen Linken würden auch außerparlamentarische linksradikale Kräfte getroffen. Wer daran ein Interesse hat, kann sich jede:r selbst ausmalen.
Sommer 2021