#le0711: Staatlich geduldete Corona-Party & Gewalteskalation

Der 7. November 2020 in Leipzig hinterläßt eine*n wütend und auch ratlos. Viele haben es im Vorfeld prognostiziert und gewarnt: Dies wird ein Massenauflauf von Corona-Leugnern, rechten Verschwörungsideolog*innen und Neonazis. Einschlägige extrem rechte Gruppierungen wie die NPD/ JN, DIE RECHTE, Hooligangruppierungen mobilisierten nach Leipzig. Dass sich hier kaum jemand an Hygiene-Auflagen halten würde, lag – insbesondere nach den Geschehnissen bei der Corona-Leugner-Versammlung in Dresden am 31. Oktober 2020 – auf der Hand.
Die Stadt Leipzig hatte die Versammlung der „Querdenker“ mit Bescheid vom 5.11.20 auf die Neue Messe verlegt, da auf dem Augustusplatz die Einhaltung der Abstandsregelungen für die angemeldeten 20.000 Menschen nur unter schwerwiegenden Einschränkungen Dritter möglich sein würden (vgl. Medieninformation der Stadt Leipzig vom 6.11.20)
Das Verwaltungsgericht Leipzig bestätigte diese Auflage am Abend des 6.11., das Oberverwaltungsgericht kassierte die örtliche Auflage wieder. Und so konnten sich die „Querdenker“ am 7.11.2020 auf dem Augustusplatz versammeln. Und das taten sie an diesem Samstag auch in großer Zahl. Ab den Vormittagsstunden strömten aus allen Richtungen Massen Menschen in die Innenstadt, eine Melange aus Esoteriker*innen, Hippies, Friedensaktiv ist*innen, Verschwörungsideolog*innen und harten, organisierten Neonazis und Hools. Sie eint die tiefe Demokratieskepsis- bis hin zur Demokratiefeindlichkeit, die Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Fakten und ein völkisch aufgeladendes Gemeinschaftsgefühl. Manche von ihnen denken, dass die Zeit des Umsturzes jetzt gekommen ist, manche wollen die (autoritäre) Richtung des Umsturzes vorgeben.

Spätestens zum offiziellen Beginn des Auflaufs auf dem Augustusplatz dürfte klar gewesen sein, dass die Hygieneauflagen, die Grundlage der Wahrnehmung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit in Corona-Zeiten sind (siehe §9 Sächsische Corona-Schutz-Verordnung), nicht eingehalten werden. Den Aufforderungen von Versammlungsbehörde und Polizei kam das Gros der „Querdenker“ nicht nach, die Ermahnungen von der Bühne wurde mit Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Regeln gespickt.
Erst nach 15.30, über zweieinhalb Stunden nach Beginn, wurde die Auflösung der Versammlung seitens des Ordnungsamtes entschieden und die Teilnehmer*innen daraufhin regelmäßig von der Polizei durch Lautsprecherwagen aufgefordert die  Versammungsfläche zu verlassen. In meinen Augen: Zu spät. Nur ein geringer Teil der „Querdenker“ entfernten sich, der überwiegende Teil war offensichtlich gewillt den geplanten, aber untersagten, Marsch über den Ring anzutreten.  Dazu hatte das breite Organisations-Team offensichtlich auch mehrere Anlaufpunkte am Ring angemeldet.
In der Folge kam es zu beängstigenden Szenen in der Goethestraße, am Wintergartenhochhaus und am Hauptbahnhof, als die Massen sich angeführt von gewaltbereiten rechten Hools den Weg bahnte. In diesen Situationen kam es verdichtet zu Angriffen auf Journalist*innen und auch Polizeibeamt*innen. Auch zu früherer Stunde sollen Menschen im Innenstadtbereich von extrem rechten Corona-Leugner*innen bedroht und angegriffen worden sein.
Schlussendlich bahnten sich die „Querdenker“ den Weg um den Ring bis zum Neuen Rathaus. Der weitere Weg wurde ihnen durch eine Sixpack-Kette versperrt, weiter hinten am Roßplatz hielten Antifaschist*innen mit einer Spontanversammlung die Stellung. Die noch tausenden Verschwörungsanhänger*innen floßen weiter durch die Innenstadt zum Augustusplatz, manche trafen sich am Sonntag am Völkerschlachtdenkmal um das schauerliche Treiben weiterzuführen. 

Für viele, die am 7.11.20 trotz des Infektionsrisikos unterwegs waren um zumindest Flagge gegen Corona-Leugnerei und rechte Ideologien zu zeigen, war dieser Tag ein krasser Einschnitt. Viele standen fassungslos vor der Untätigkeit von Versammlungsbehörde und Polizei. Viele standen fassungslos vor den Massen von Verschwörungsideolog*innen und Rechten, vor geschlossenen abgedrifteten und antisemitischen Weltbildern, Holocaust-Leugnung und demokratiefeindlichen Redeschwällen. Einige mussten vor rechten Angriffen flüchten, manche wurden tätlich angegriffen, andere verließen die Szenerie aus purer Angst.
 
Vor diesem Hintergrund macht es unfassbar wütend, den Leipziger Polizeipräsidenten Torsten Schultze und seinen Dienstherren Roland Wöller vom „friedlichen Verlauf“ der Versammlung schwadronieren zu hören, zu hören, dass „gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen“ beim „Abströmen“ verhindert werden konnten (welche „Gruppen“?, etwa Journalist*innen vs Neonazis?) oder ernsthaft hören zu müssen, dass der „Einsatz von Zwang gegen Senior*innen oder Wasserwerfer gegen Kinder“ auf dem Augustusplatz indiskutabel gewesen sei. Was Wöller im Rahmen eines Pressebriefings am 8.11.20 von sich gab, spottet jeder Beschreibung und verkennt das, was am 7.11. geschehen ist. Damit dürfte er selbst seine eigenen Beamt*innen vor den Kopf stoßen, die im Bereich des Hauptbahnhofes selbst gewalttätigen Angriffen ausgesetzt waren. 

Ich bin fern davon den Einsatz von Gewalt durch die Polizei gegen die „Querdenker“ auf dem Augustusplatz herbeizurufen, wie es leider auch viele Linke am 7.11. taten. Dass Innenminister und Polizei nicht zimperlich sind, wenn es um die Durchsetzung von Auflagen und Skandalisierung und Ahndung von Rechtsverstößen bei linken Demos geht, dürften allerdings viele zur Genüge kennen. Es lässt sich also schwarz-auf-weiss festhalten, was wenig neu ist: Der (sächsische) Staat legt ganz offensichtlich zweierlei Maß an.
Ich möchte allerdings noch einen Schritt weiter gehen und fragen: Warum hat diese Versammlung überhaupt stattfinden können? Wie konnte es sein, dass trotz der massiven Mobilisierung extrem rechter Zusammenhänge und Gewaltandrohungen via social media das Gefahrenpotential von Teilen der Teilnehmer*innen derart verkannt oder ignoriert wurde? Wieso wurden die vollkommen absehbaren massenhaften Verstöße gegen die Hygiene-Auflagen nicht stärker verargumentiert? Wieso konnte die zu erwartenden Teilnehmer*innenzahl von den Veranstaltern einfach so auf 16.000 abgesenkt werden, obwohl klar war, dass bundesweit in breiten Spektren mobilisiert wurde? Warum erfolgte die Beauflagung durch die Stadt so spät, so dass Gerichte in Nacht-und-Nebel-Aktionen entscheiden mussten? Und warum konnte aufgrund einer fundierten Gefahrenprognose zugelassen werden, dass „nur“ 320o Polizeibeamt*innen für diese Masse an zum Teil gewaltbereiten Demonstrant*innen im Einsatz sind?
Zur Klarstellung: Ich halte Eingriffe in die Versammlungsfreiheit für schwierig und lehne Verbote ab. Im Sinne eines pragmatischen Anwendens der möglichen Mittel, wäre hier aber aus staatlicher Sicht mehr drin gewesen. Mindestens eine konsequente Absperrung des Rings durch Auto-Sperren, wie es die Polizei zum Abdrängen zivilgesellschaftlicher und antifaschistischer Proteste gegen Legida in Leipzig doch perfektioniert hatte?

Außer jedoch: Ein konsequentes Agieren gegen die Phalanx aus Corona-Leugnern, rechten Verschwörungsideolog*innen, Esoteriker*innen und Neonazis ist nicht erwünscht. Das Agieren des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, das eher als Kokettieren mit diesen Gruppen beschrieben werden muss, und die verharmlosenden Aussagen des sächsischen Innenministers Wöller lassen keine andere Deutung zu.

PS: Rücktrittsforderungen gegen den sächsischen Innenminister sind derzeit vor allem in sozialen Netzwerken zu lesen. Auch ich wurde gebeten mich dafür stark zu machen. Allein: Ich weiß nicht,was das bringen soll. Der Fisch stinkt in Sachsen vom Kopf her. Ein anderer CDUler von Kretschmers Gnaden wird keine wirklichen Paradigmenwechsel bringen. Markus Ulbig, Wöllers Vorgänger, stand genauso für den Kampf gegen links, das Dulden rechter Umtriebe und asylpolitische Grausamkeiten.
Wir dürften in den nächsten Tagen bundesweite Entrüstungsschwälle erwarten, eine Innenausschusssitzung im Landtag, für die auch wir uns stark machen, die allerdings wenig Erkenntnisse zutage bringen wird. Zwei kleinere Koalitionspartner*innen – SPD und Grüne – die auf und nieder hüpfen und dann zum Tagesgeschäft übergehen. Wir werden das gegenseitige Zuschieben von Verantwortung für das Staatsversagen am 7.11.202 erleben.

Es bleibt an uns uns antifaschistisch zu organisieren, Solidarität als Prinzip zu leben und die sächsischen Verhältnisse umzustoßen. Den Anfang dabei bei Innenminister Wöller und dem Leipziger Polizeipräsidenten Schultze zu machen, kann nicht verkehrt sein.

Bild: la-presse.org

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