Keine Hierarchie, keine Obrigkeit und keine Untertanen, keine Lohnsklaverei und keine Ohnmacht

Der Journalist und Journalist und Vorsitzende der Partei Grüne Linke Ungarn G.M. Tamás über Kommunismus

Quelle: Neues Deutschland vom 05.02.2011

G.M. TAMAS war in der Ungarischen Volksrepublik über 14 Jahre mit Berufsverbot belegt. Er schrieb für diverse Samisdat-Publikationen und engagierte sich für eine Umgestaltung der Gesellschaft. »Ich schlief nicht viel in jenen Jahren«, sagt der Philosoph, der bis 1994 Abgeordneter im ungarischen Parlament war. Mit dem heutigen Vorsitzenden der Sozialistischen Grünen Ungarns sprach KARLEN VESPER.

ND: Herr Tamás, Sie verfolgen die Kommunismus-Debatte in Deutschland. Was halten Sie davon?
Tamás: Was Antikommunisten von sich geben, erstaunt mich nicht. Das kenne ich aus Ungarn, die Hetze, die Einschüchterung. Entsetzt bin ich über das Schweigen der parteilosen linken Intellektuellen. Und ich wundere mich, wie schnell sich die Parteilinke ins Bockshorn jagen lässt. Das Wort Kommunismus könne man nicht mehr benutzen, weil es mit Diktatur und Gulag assoziiert wird. Das ist ein Einwand, den man verstehen kann, wenn man die stalinistischen Regime als kommunistische identifiziert.

Das tun Sie nicht?

Natürlich nicht. Was in der Sowjetunion und in den anderen osteuropäischen Staaten praktiziert worden ist, war Sozialismus im Sinne des alten Gedankens: mehr Gleichheit durch den Staat, durch Planung und Verteilung. Dieses Ziel unterscheidet sich nicht allzu sehr vom bürgerlichen Wohlfahrtsstaat. Die realsozialistischen Staaten waren diktatorische Wohlfahrtsstaaten. Eigentum, Warenproduktion, Lohnarbeit, Geldwirtschaft, Klassenunterschiede und der Unterschied zwischen körperlicher und intellektueller Arbeit, die gesellschaftliche Arbeitsteilung waren nicht aufgehoben, ebenso nicht die patriarchale Familie, der Polizeistaat, Nationalismus und Militarismus. Mit der kommunistischen Idee hatte das sehr wenig zu tun. Dieser Sozialismus hatte seine Wurzeln im utopischen Sozialismus im Frankreich nach der Revolution von 1789. Ich mag die utopischen Sozialisten nicht.

Was haben Sie gegen Henri de Saint-Simon und Charles Fourier?

Sie waren totalitär. Sie wollten die Umgestaltung der Gesellschaft und das Glück der Menschen durch Hierarchie und Zwang erreichen, alten Autoritätsglauben durch einen neuen ersetzen. Das will ich nicht.

Es ist aber Tatsache, dass der Kommunismus gemeinhin mit Gewalt assoziiert wird …

Das ist eine Unterstellung. Kommunisten lehnen Gewalt ab. Rosa Luxemburg hat das immer wieder betont: Kommunisten bedürfen für ihre Ziele keines Terrors, sie hassen und verabscheuen den Menschenmord. Sie bekämpfen nicht Individuen, sondern Institutionen.

Kommunismus bedeutet natürlich Kampf – Kampf für die Gleichheit aller Menschen, ob Schwarz oder Weiß, Mann oder Frau, Gebildete und Unwissende, Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Marginalisierte und Prominente. Kommunisten vereinen alle emanzipatorischen Ansprüche im Interesse einer menschlichen und friedlichen Gesellschaft.

Der Kommunismus ist also im Interesse aller, der Allgemeinheit?

Kommunismus ist hundertprozentige Allgemeinheit. Wohin man auch schaut, überall in der Welt leiden die Menschen an Hunger, an Kriegen, an Ausgrenzung und Ausbeutung. Die einzige und perfekte Lösung, all diese Missstände zu beseitigen, bietet eine Gesellschaft, in der es keine Hierarchie mehr gibt, keine Obrigkeit und keine Untertanen, keine Lohnsklaverei und keine Ohnmacht. Und das ist die kommunistische Gesellschaft.

Das ist die Utopie …

Noch. Diese Utopie dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren. Sonst bleiben wir Barbaren …

Wie bitte?

Ja, Barbaren im Sinne von Rosa Luxemburg. Knechtschaft, Kriege, Völkerhass sind barbarisch. Solange diese Zustände herrschen, kann man nicht von Zivilisation sprechen. Wer diese Gesellschaft Zivilisation nennt und sich mit ihr abfindet, ist ein Barbar. Wir blicken nach Nordafrika und sehen wilde Empörung, einen zornigen Aufstand. Und er ist uns viel sympathischer als die gut geölte, lautlos laufende Maschinerie der Diktatur.

Können Sie Ihr Kommunismusbild noch etwas präzisieren?
Im Kommunismus ist der Mensch in Harmonie mit sich selbst und der Natur. Der Kommunismus stellt die Einheit zwischen Mensch und Natur wieder her. Es gibt keine Klassen, die sich feindlich gegenüberstehen. Klassen sind Folgen der Arbeitsteilung und der Separationen der Produzenten von den Produktionsmitteln. Diese schafft der Kommunismus ab. Der Kommunismus kennt nicht die Disziplin, die durch den kapitalistischen Produktionsprozess erzwungen wird. Für einen Marxisten ist die Arbeit ein Ungeheuer. Gewalt wird angetan dem menschlichen Wesen durch die Pflicht zur Arbeit. Auch im Realsozialismus ist Arbeit in diesem Sinne glorifiziert worden.

Plädieren Sie mit Marxens Schwiegersohn Paul Lafargue für das Recht auf Faulheit?
Das wird vielfach missverstanden. Es geht um marxistische Kritik am kapitalistischen Arbeitsbegriff, um den Fluch der Arbeit. Der Kapitalist ist bestrebt, die Bedürfnisse der Produzenten auf ein Minimum zu reduzieren, den Arbeiter zu einer Maschine zu verdammen, »aus der man pausenlos und gnadenlos Arbeit herausschindet«. Der Arbeiter ist gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, auch zum Minimum, weil er sonst verhungern würde.

Aber auch im Kommunismus kann der Mensch ohne Arbeit nicht sein. Wer bäckt im Kommunismus das Brot, wer baut die Häuser?
Natürlich. Ein Wechselverhältnis mit der Natur ist notwendig. Das ist aber auch ohne Gewalt möglich. Lohnarbeit beruht auf Gewalt. Kapitalistische Arbeitsteilung – und das galt auch im Realsozialismus – bedeutet Hierarchisierung. Diese bedingt Unfreiheit. Es gibt nicht nur politische Unfreiheit, sondern auch die Unfreiheit auf dem Arbeitsmarkt. Da wird heuchlerisch gesagt: Wenn jemand nicht arbeiten will, bitte, dann lässt er das bleiben. Das ist Privatsache. Aber dann hungert der Mensch. Das ist seine »Freiheit«. Deshalb muss man die Zwänge aufheben. Es ist höchste Zeit, dass wir ein Leben führen, in dem wir nicht nur frei sind, sondern Genugtuung erfahren, Vergnügen und Glückseligkeit. Auch bei der Arbeit.

Das Paradies oder Goldene Zeitalter, wie es antike Schriftsteller besungen und Maler der Renaissance auf Leinwände gebannt haben?

Es ist nicht so schwierig, wie es scheint. Es ist wirklich möglich. Diese Welt ist eine reiche Welt. Wir produzieren mehr als wir brauchen. Alle könnten besser leben.

In der sogenannten Dritten Welt bräuchte niemand zu hungern. Laut FAO, der Welternährungsorganisation der UNO, stehen derzeit so viel Lebensmittel zur Verfügung, dass man fast doppelt so viele Menschen ernähren könnte wie diesen Planeten bevölkern. Doch die Hungerrevolten im Süden lassen den reichen Norden gleichgültig. Homo homini lupus?

Nein. Das ist das irrsinnige System, das die Verteilung nicht möglich macht, nicht möglich machen will. Natürlich kann man die Bedürfnisse aller sechs Milliarden Menschen nicht im Einzelnen kennen. Aber man kann ihnen einen direkten Zugang zu Quellen der Versorgung und des Vergnügens sichern. Das ist schon mit heutiger Technologie möglich. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, für die es sich zu kämpfen lohnt. Und ich glaube auch, dass die heutige Generation genug vom Satz hat: »Ach geh, das ist nicht möglich, das ist gegen die menschliche Natur.« Der Mensch ist nicht des Menschen Wolf. Es gibt keine menschliche Natur.

Weil die Menschen verschieden sind?

Das meine ich nicht. Wenn es mehrere Naturen gibt, ist das keine Natur mehr. Natur ist einheitlich. Es gibt verschiedene Gattungen, und die menschliche wird sehr weitgehend durch ihre Geschichte bestimmt. Ich habe eine kleine Tochter, fünfeinhalb Jahre. Man bringt ihr im Kindergarten bei, dass sie rosa Kleider tragen soll. Rosa ist die Farbe für Mädchen. Und nach dem Antritt der neuen Regierung unter Viktor Orbán, hat sie eines Tages zu mir gesagt: »Vati, hast du gewusst, dass ich ein ungarisches und christliches Mädchen bin?« Identitäten, Rollenverständnisse, Ein- und Zuordnungen werden den Menschen beigebracht. Das ist nicht ihre Natur.

Und im Kommunismus sind die Menschen auch davon befreit? Finden zu sich selbst?

Die Menschen werden ein freieres und lockeres Leben führen, nicht mehr fremd-, sondern selbstbestimmt. Und ohne Kriege, die nicht die ihren sind, in die man sie zwingt. Es gibt keine Gefängnisse mehr und keine Angst.

Und wie nun kommt man zum Kommunismus? Bauen Sie auf Einsicht und Vernunft? Hoffen Sie, dass sich die Gesellschaft von selbst verändert?
Nein, man braucht Avantgarden. Damit meine ich nicht die, die wir in der Geschichte bisher hatten. Nicht leiten, nicht führen, sondern verführen, das Andere vorleben.

Wie es etwa Rudolf Bahro auf seinem LebensGut oder die Kommunarden taten?

Nun, das wäre nicht mein Stil, aber generell: ja, eine andere Lebensweise ausprobieren. Und diese alternativen Lebensformen gibt es bereits überall. Nicht nur junge, aber zumeist junge Leute realisieren auf verschiedene Weise herrschaftsfreies Leben. Sie scheitern manchmal, natürlich, weil die bürgerliche Gesellschaft sehr stark ist. Aber nach ihrem Scheitern wagen die nächsten neue Experimente. Warum? Weil eine große Sehnsucht nach einem anderen Leben in dieser Welt ist. Da ist nichts Utopisches, all diese Erfahrungen sind sehr konkrete, sehr sinnliche.

Wie stehen Sie zur Frage Revolution oder Reformen?

Das ist die alte Fragestellung. Ich habe nichts gegen Revolution, wenn man darunter nicht die gewaltsame Machtübernahme durch einen Apparat versteht. Man sollte das Wort »Revolution« reformieren. Ich habe auch nichts gegen Reformismus, wenn das grundlegende Ziel der Emanzipation nicht aufgegeben wird, sondern bedeutet, in der Zwischenzeit schon etwas Vernünftiges zu tun. Wenn Reformismus aber Kompromissmus mit Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg bedeutet, dann bin ich dagegen. Reformen und Revolutionen können gleichermaßen eine befreiende Rolle spielen.

Auf welchen Zeitraum müsste man sich einrichten, wenn man sich den Kommunismus wünscht?

Zeiträume sind nicht wichtig. Die Geschwindigkeit interessiert nur beim Auto. Wir haben einen riesigen Korpus von Ideen. Da ist ja nicht nur Karl Marx, der auch nicht frei von Fehleinschätzungen war. Wir haben Ernst Bloch, Theodor W. Adorno und Hans-Jürgen Krahl …

Und Georg Lukács.

Ja, auch György Lukács und all die anderen. Manche liebe ich, manche nicht so sehr.

Wie steht es um das Lukács-Archiv in Budapest? Man hört Alarmierendes.

Es ist klar, die heutigen Machthaber wollen es gänzlich eliminieren, können sich im Augenblick jedoch keinen neuen Skandal leisten. Dessen ungeachtet fahren sie in der Verfolgung linker und auch liberaler Philosophen – manche sind alte Lukács-Schüler – fort. Das ist furchtbar, wirklich alarmierend.

Sie waren im realsozialistischen System Dissident …

Damals war ich ein libertärer Sozialist. Ich war nicht prinzipiell gegen Sozialismus, sondern gegen das stalinistische und poststalinistische System, den tyrannischen Staatskapitalismus. Die Revolten gegen das Regime, der Aufstand 1956 in Ungarn oder der Prager Frühling 1968, waren sozialistisch intendiert. Ich bin ein Kind von Altkommunisten und hatte immer großen Respekt vor kommunistischen und rätesozialistischen, tragisch abgewürgten Traditionen, aber keinen Respekt vor dem despotischen Staat. Ich habe das vormalige Regime verraten. Und jetzt bin ich wieder ein Verräter – am bürgerlichen Nationalstaat.

Und wie einst unter János Kádár versucht man Sie auch jetzt zum Schweigen zu bringen. Sie könnten viel ruhiger leben, wenn Sie nicht immer widerspenstig wären. Warum passen Sie sich niemals an?

Weil man denkt.

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