Kein Asyl in Wiederitzsch?

15813369671_711f139ec9_zWo sollen die Menschen denn hin? In ihre Heimat! Abschieden! Zu ihnen nach Hause! Die Situation ist von uns allen zu meistern! NEIN!
So reagierte ein Gros der BesucherInnen einer Infoveranstaltung zur Interims-Erstaufnahmeeinrichtung in Leipzig-Wiederitzsch.
Am Ende bleiben viele offene Fragen, aber auch positive Signale.

Zirka 1000 Menschen hatten sich im Haus Auensee eingefunden, zum Teil durch Reisebusse der neu gegründeten BürgerInneninitiative  IG Wiederitzsch angereist.

Anlass der Veranstaltung war der Plan des Freistaates Sachsen im ehemaligen Bundeswehrkrankenhaus in Leipzig-Wiederitzsch eine temporäre Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende einzurichten. Bis zum 30. September 2014 wurden in Sachsen 5210 Asylanträge gestellt, davon 4576 Erstanträge. Bis zum Jahresende soll diese Zahl laut Prognosen auf mehr als 11.000 wachsen. 2013 waren es 5.800.
Durch die Zunahme der Flüchtlingszahlen wird auch in Sachsen die Schaffung neuer Erstaufnahme-Kapazitäten nötig. Die existierenden Einrichtungen in Chemnitz und Schneeberg sind überfüllt bzw. am Rande ihrer Aufnahmefähigkeit. Bis zum 30. September betrug die Auslastung in Chemnitz mit 584 Menschen 94 % und in Schneeberg mit 694 105 %. In Chemnitz waren zu diesem Zeitpunkt zudem 429 Menschen in Ausweichquartieren untergebracht.

Das Bundeswehrkrankenhaus in Wiederitzsch wird seit Anfang Oktober 2014 öffentlich als möglicher Interimsstandort diskutiert. Noch im August hatte Ministerpräsident Stanislaw Tillich die Errichtung von Wohncontainern angekündigt, was in Antwort auf meine Kleine Antwort zurückgenommen wurde.

Der Staatssekretär des Inneren Dr. Michael Wilhelm eröffnete die Veranstaltung am Montagabend mit der Information, dass bisher kein Vertrag mit dem Eigentümer des ehemaligen Bundeswehrkrankenhauses, der Golden Gate GmbH, abgeschlossen wurden. Er stellte zudem heraus, dass es – wenn es überhaupt dazu kommt – um eine temporäre Lösung für 350 Geflüchtete geht. Vielmehr verfolge der Freistaat ein „3 Standorte“-Konzept. So sollen neben Chemnitz die beiden Großstädte Dresden und Leipzig als Standorte für Erstaufnahmeeinrichtungen fungieren. Mitte 2017 sollen in der Max-Liebermann-Straße in Leipzig-Gohlis und im Hammerweg in Dresden Aufnahmemöglichkeiten für jeweils 700 Menschen geschaffen werden.

Die Information über den nicht erfolgten Vertragsabschluss und die bisher fehlende Erteilung einer Nutzungsänderung durch die Stadt Leipzig in Wiederitzsch erfüllte den Saal mit Applaus. Als Staatssekretär Wilhelm für eine menschenwürdige Unterbringung für Geflüchtete plädierte, war jener ungleich leiser. Die Fronten waren geklärt. In der Folge wurden Aussagen wie „Leipzig ist eine weltoffenen Stadt“ mit schallenden Buh-Rufen goutiert.
Auch der Leipziger Polizeipräsident Bernd Merbitz konnte die Stimmung mit seinem Appell an Emphatie und auch mit seiner Ankündigung in Wiederitzsch einen eigenen Polizeiposten zu schaffen nicht umkehren. Auch seine spätere Antwort auf die Bilderbuchfrage „Ich bin nicht ausländerfeindlich, aber .. wer schützt unsere Kinder“ verfing nicht. Laut Merbitz macht das Straftatenaufkommen durch Asylsuchende in Leipzig 0,5 % aus. Das macht in etwa den Anteil der in Leipzig lebenden Asylsuchenden aus. Es gibt also keinerlei Auffälligkeiten, was den Großteil der TeilnehmerInnen der Veranstaltung nicht davon abhielt der Unterstellung von potentiell „kriminellen Ausländern“ immer wieder lautstark zuzustimmen.
Zahlreiche redundante Äußerungen aus dem Publikum schlugen in dieselbe Presche: wir wollen das hier nicht, Politik wird über unsere Köpfe gemacht und überhaupt sind „die“ anders.
Eine Frau berichtete über ihren Plan in dem Bundeswehrkrankenhaus eine Reha-Stelle errichten zu wollen. Dies sei durch den Plan des Landes vereitelt. Als das Podium darauf verwies, dass sich auf dem Gelände der EAE in Schneeberg eine von Vereinen rege genutzte Turnhalle befinde und die Nutzung als Asylunterkunft kein Hindernis darstelle, musste die Rednerin eingestehen: es gibt zu viele Vorurteile, als dass dieses Zusammenspiel funktioniere könnte.
Eine Rednerin wies auf den psychischen Zustand der Geflüchteten hin, ein erheblicher Teil derer, die nach Deutschland kommen, ist traumatisiert und braucht intensive Betreuungsangebote. Sie  verwies auf das so genannte Würzburger Modell, ein in Bayern entwickeltes Modellprojekt für Erstaufnahmeeinrichtungen (download als pdf). Ihr Beitrag wurde bald von Pöbeleien übertönt. Eine weitere Rednerin fragte nach Unterstützungsmöglichkeiten.

Nicht die Asylsuchenden sind das Problem, auch nicht die vermeintliche Bedrohung für Kinder, Frauen oder eine gesteigerte Kriminalitätsrate. Das Problem sind Menschen, die schutzsuchende Menschen mit anderer Herkunft als Bedrohung wahrnehmen und systematisch Asyl- oder Sozialleistungsmissbrauch unterstellen. Wer sich einmal ernsthaft mit Fluchtgründen von politisch, religiös oder aufgrund Geschlecht oder Lebensweise verfolgten Menschen befasst und die Augen für die systematische Diskriminierung von Minderheiten beispielsweise in den Balkan-Staaten öffnet, wird aufhören solche Anwürfe zu formulieren.

Dass Staatssekretär Wilhelm mit falschen Zahlen bezüglich der Anerkennungs- bzw Schutzquote aufwartete, ist letztendlich Wasser auf diese Mühlen. Zwar bekamen auch im Jahr 2014 bis dato nur knapp über 1 % der Asylsuchenden eine Anerkennung nach § 16a Grundgesetz, mit den Anerkennungen als Flüchtling bzw. der Gewährung subsidären Schutz sowie der Feststellung eines vorläufigen Abschiebungsverbotes wächst die Schutzquote allerdings auf fast 30 %. Hinzu kommt ein großer Teil – ca. 20 % – von so genannten Dublin-Rückschiebungen, ohne dass das Asylbegehr überhaupt inhaltlich geprüft wurde. Dabei geht es allein darum, dass Deutschland nicht für die Asylverfahren zuständig ist. Mittlerweile häufen sich allerdings Rückschiebungsverbote aufgrund der für Flüchtlinge untragbaren Situation, z.B. in Ungarn, Griechenland und Italien.

Nach mehr als zwei Stunden begann die Veranstaltung im Haus Auensee zu bröckeln. Der anwesende NPD-Stadtrat Enrico Böhm verließ die Szenerie mit zwei BegleiterInnen, ohne die Situation für sich genutzt zu haben. Die Fragen der AnwohnerInnen erschöpften sich.

Es bleiben eine ablehnende bis skeptische Haltung gegenüber Asylsuchenden, ein dubioser Eigentümer des Bundeswehrkrankenhauses, der bereits insolvent ist und beim Freistaat möglichst viel Geld rausholen will. Es bleibt die IG Wiederitzsch, die in sachlicher Art und Weise an das Vorhaben BWK als Erstaufnahmeeinrichtung herangeht ( hier klicken) und dabei eine wichtige Rolle im Ortsteil einnimmt. Und es bleibt eine recht planlose Landesverwaltung. Denn neben der Standortfrage sind gerade die wichtigen Fragen der sozialen Betreuung, Rechtsberatung oder Angebote für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge in Sachsen prekär..

PS: Im Falle einer Nutzung des BWK als Interims-EAE ist eine Nachnutzung als Unterkunft für BereitschaftspolizistInnen geplant. Dass die AnwohnerInnen sich hier genau so erheben wird, kann ausgeschlossen werden.

Bild: Caruso Pinguin

52 Gedanken zu „Kein Asyl in Wiederitzsch?“

  1. http://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl.html

    als Ergänzung zu Frau Nagels Zahlen.
    wenn ich das richtig verstanden habe, sind ca. 50% der Ankommenden keine Flüchtlinge (politisch, kulturell, religiös, Minderheit etc) sondern Menschen die in Deutschland eine Existenz aufbauen wollen (unschön Wirtschaftsflüchtlinge genannt).
    Geben wir diesen Menschen eine Chance, sofern Sie Integrationswillen und fähig sind, arbeitswillig und fähig sind und somit in jedem Fall eine Bereicherung für unser Land und unsere Kultur darstellen. seien wir eine offene Gesellschaft, die auch offen diese Fakten diskutiert – und Lösungen (ein Einwanderungsgesetz) findet sowie eine Willkommenskultur aufbaut indem die die herkommen um sich nicht zu integrieren und nicht zu arbeiten schnell und vollständig erkannt und geändert oder ausgewiesen werden (es sei denn sie sind Flüchtlinge).

    eine gute Nacht wünscht,
    Dirk Neumann

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