Für & Wider: Eltern allein zu Haus – Inobhutnahmen in Leipzig

10622718_691938194225310_663584271863102023_nWeltnest fragt nach Hintergründen der wachsenden Zahl von Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen in Leipzig und nach Gegenstrategien

 

 

 

 

Martin fragt:

In Leipzig leben fast so viele Kinder in Obhut des Allgemeinen Sozialdiensts vom Amt für Jugend, Familie und Bildung wie in Dresden und Chemnitz zusammen. Wie konnten wir diesen Negativrekord erreichen und hat die Stadt Möglichkeiten, um dieser Entwicklung entgegen zu steuern?

Meine Antwort:

Ein schwieriges und sensibles Thema für eine so kurze Kommentierung. Inobhutnahmen – also die Herausnahme von Kindern und Jugendlichen aus ihren Familien – sind das letzte Mittel, wenn das „körperliche, geistige oder seelische Wohl“ von Kindern und Jugendlichen akut gefährdet ist.
Sie kommen zum Zuge, wenn andere gesellschaftliche und politische Mechanismen versagt haben. Dies sind zuerst stabile soziale und familiäre Verhältnisse. Aber auch präventive öffentliche Angebote wie frühkindliche Bildung in der Kita, Angebote der Familienbildung und viele weitere Angebote der Jugendhilfe stehen vor diesem drastischen Schritt.
Das Ansteigen der Zahlen ist ein bundesweiter Trend und hat mit sich zuspitzenden sozialen Schieflagen, aber auch einer höheren Sensibilität gegenüber der Unversehrtheit von Kindern zu tun, beispielsweise durch das neue Bundeskinderschutzgesetz.
Die Fallzahlen steigen vor diesem Hintergrund bundesweit und damit auch in Dresden und Chemnitz. Dass Leipzig bei den Inobhutnahmen so weit vorn liegt hat Gründe:
Leipzig ist die Armutshauptstadt: Das Nettoeinkommen in Haushalten mit Kindern unter 15 Jahren lag in Dresden 2012 mehr als 500 Euro bzw. 23,75 % über dem in Leipzig, In Chemnitz sind es immerhin noch 250 Euro bzw. 10 % mehr.  In Leipzig sind fast 33 % der Kinder von Armut bedroht, in Chemnitz sind es 27 % und in Dresden 20 %.
In Leipzig stechen bei der Zahl der Inobhutnahmen die Sozialbezirke Nordost und West hervor, also die Stadtgebiete, in denen sich Armutslagen ballen. (siehe Kinder- Jugendhilfereport 2012, Seiten 49 bis 58)
Es ist kein Geheimnis, dass die soziale Situation Einfluss auf die (emotionalen) Kompetenzen der Eltern hat und dies wiederum die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ganz erheblich beeinflusst.
Wie u.a. der Ausschuss für Soziales, Jugend und Familie des Deutschen Städtetages 2013 feststellte, sind auch das selektive Schulsystem, Wohnraumprobleme, veränderte Familienstrukturen (z.B. die Zunahme von Alleinerziehenden) und die prekäre Ausstattung der Jugendhilfe-Strukturen Faktoren für den Anstieg der Hilfebedarfe von Kindern und Jugendlichen.
In jüngerer Vergangenheit wurde viel über die Arbeitsweise und Ausstattung des Allgemeinen Sozialdienstes gesprochen. Dieser ist für Inobhutnahmen verantwortlich. Nach der Umstrukturierung des ASD 2009 tauchten immer wieder Zweifel an der Arbeitsfähigkeit des Dienstes auf. Unser Eindruck war, dass die Strukturreform vor allem ökonomischen Effizienz-Kriterien folgte und die intensive Arbeit mit den Klient*innen ins Hintertreffen geriet. Die Debatte erreichte nach dem Tod einer Mutter und ihres Kindes in Gohlis im Juni 2012 ihren Höhepunkt. Inzwischen hat die Stadt die Prüfkriterien für die Kindeswohlgefährdung verfeinert und lässt momentan die Strukturen evaluieren.
Was können wir tun?
Prekäre Lebenslagen sind nicht gottgegeben, sondern politisch befördert oder eben nicht verhindert worden! Darum muss sich die Politik grundsätzlich ändern! Die eigentlichen Stellschrauben liegen in einer sozial gerechten Politik, einem auf Solidarität und nicht auf Leistungsdenken und Konkurrenz basierenden Gesellschaftssystem.
Auf der kommunalen bzw. Landesebene sind es „kleine“ Stellschrauben, die das Richtigere im Falschen auf den Weg bringen können:
– eine gut ausgestattete Jugendhilfe (was alle Leistungsbereiche – vom Offenen Treff über Jugendverbandsarbeit, Familienbildung bis hin zur /Schul/sozialarbeit einschließt),
– die Verbesserung des Betreuungsschlüssel in den Kindertagesstätten,
– der Ausbau aller Kita zu Kinder- und Familienzentren (die zur Grundausstattung noch Ressourcen für Eltern- und Sozialraumarbeit bekommen, momentan gibt es in Leipzig davon 14),
– die Abschaffung des selektiven dreigliedrigen Schulsystems
– den Ausbau der Hilfesysteme für Kinder und Jugendliche, die in Obhut genommen werden (der Kinder- und Jugendnotdienst, in dem die Betroffenen zuerst ankommen, ist permanent überbelegt, es fehlen Anschlussangebote wie z.B. sozialpädagogisch betreute Wohngemeinschaften)
– eine schonungslose Analyse der Arbeitsfähigkeit des Allgemeinen Sozialdienstes
Wir müssen uns bewußt sein, dass Kinder und Jugendliche die schwächsten Glieder dieser Gesellschaft sind. Sie bekommen soziale Schieflagen am heftigsten zu spüren. Es muss darum gehen Kinder solange wie möglich in ihrem familiären Umfeld zu belassen und Familien wirksame Hilfen zur Seite zu stellen.

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