Ein Schwall von Kritik brach Ende Dezember über die hinein, die den Mord an Kamal K. und mögliche Tathintergründe öffentlich thematisieren und dabei von der Vermutung, dass es sich um einen rassistischen Mord handeln könnte, nicht abrückten. Nachdem Daniel K., der an der Gewalttat an Kamal beteiligt gewesen sein soll, am 20.12.201 auf freien Fuß gesetzt wurde, schlugen die Wellen hoch: Unverständnis darüber, dass die Staatsanwaltschaft sich auf diesen strategisch cleveren Schachzug des langjährigen Neonaziaktivisten einliess – K. belastete seinen Kumpel, Marcus E. schwer und inszenierte sich selbst als Opfer übermässigen Alkoholeinflusses und als Neonazi-Szene-Aussteiger – stieß auf tendenzielle Zustimmung zur Haltung & Praxis der Staatsanwaltschaft.
So schloss sich die Leipziger Internetzeitung in einem Artikel weitestgehend der Deutung der Staatsanwaltschaft an, nach der ein rassistisches Tatmotiv erst einmal ausgeschlossen wurde. Die liz radikalisierte diese Position sogar noch indem sie auf die zunehmende Tendenz (unpolitischer) „krimineller Energien“ von Neonazis verwies und schließlich dem Initiativkreis Antirassismus, der die Tat als rassisisch motiviert deutet, „Kaffeesatzleserei“ bescheinigte.
Welche Fakten liegen da? Ein Neonazi, der langjährig in der hartgesottenen Kameradschaft Aachener Land aktiv war (das Engagement endete nicht mit einem Ausstieg sondern einem zweijährigen Knastaufenthalt) und sein Begleiter, der zumindest rechte Tätowierungen trägt, hielten sich in jener Oktobernacht im Bereich des Leipziger Hauptbahnhofes auf. Zu später Stunde taucht ein Mensch mit erkennbarem Migrationshintergrund auf – Kamal K., der nach öffentlich zugänglichen Informationen auf dem Weg in die Wohnung seiner Familie war. Es kam zu einem gewaltsamen Angriff, den Kamal nicht überlebte. Nach neuesten Informationen soll Daniel K. Kamal mit Pfefferspray niedergestreckt und an der Flucht gehindert haben. Marcus E. hat mutmaßlich die tödlichen Stiche verursacht.
Was liegt näher als auf Grundlage dieser Fakten eine rechts motivierte Gewalttat zu vermuten? Wie anders sollten Menschen, die sich nur eine Spur gesellschaftlich interessieren, reagieren als den politischen Hintergrund der mutmaßlichen Täter in Beziehung zur Tat und explizit zur „Auswahl“ des Opfers zu setzen?
Es ist davon auszugehen, dass die mutmaßlichen Täter und Kamal sich nicht kannten, ein entsprechendes, im privaten liegendes, Motiv also fehlt.
Die, die jetzt am lautesten nach Zurückhaltung rufen und die Erkenntnisse der Ermittlungsorgane, dass es keine Anzeichen einer rassistisch motivierten Tat gäbe, als unantastbare Fakten hinstellen, haben scheinbar noch nicht mit der Materie – dem Umgang des Staates mit rechts motivierten Gewalttaten – auseinandergesetzt.
Initiativen, die in diesem Bereich tätig sind, machen eine krasse Differenz zwischen eigenen Recherchen und staatlich erfassten Fällen rechts motivierter Tötungsverbrechen aus (laut ZEIT und Tagesspiegel sind es seit 1990 137 Todesopfer, der Opferfonds Cura zählt im gleichen Zeitraum 149).
2001 wurde das Erfassungssystem für Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) aufgrund öffentlichen Drucks reformiert. Wurden bis dahin nur Delikte entsprechend erfasst, die sich gegen die staatliche Ordnung richten (der so genannte Extremismus), hieß es nun, dass Straftaten als politisch motiviert gelten, „wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen eine Person gerichtet sind wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status“. Es steht schwarz auf weiß geschrieben, dass zwischen Tat und Einstellung des Täters eine Verbindung gezogen werden kann. Gleichwohl sich im Wortlaut die Begriffe „Volkszugehörigkeit“, „Nationalität“ oder gar „Rasse“ affirmativ verwendet wiederfinden, war diese Reform ein Schritt in die richtige Richtung, weg vom alleinige Erfassungs-Kriterium „Verfassungsfeindlichkeit“ hin zu dem der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (ein Schritt näher zur Strafrechts-Kategorie „Hate Crime„, wie er unter anderem in den USA existiert).
Nach der 2001er-Reform schnellte die Statistik rechts motivierter Straftaten in die Höhe, die offensichtliche Lücke in Sachen rechts motivierter Morde wurde allerdings nicht geschlossen. Denn Grundlage der Zählung blieb und bleibt die Handhabung und Bewertung solcher Taten durch Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte vor Ort. Und diese entpolitisieren und verdrängen gern. Dass es oft Öffentlichkeitsarbeit und Proteste von Initiativen waren, die die Motive solcher gewaltsamer Todesfälle und einschlägige (Neonazi-)Biografien von Tätern, transparent und diskutierbar machten und in einigen Fällen auch die nachträgliche Kategorisierung als rechts motivierte Gewalttat erreichten, scheint den KritikerInnen ebenso wenig bekannt.
Nicht Vorverurteilungen oder gar das Gerieren als alternative Judikative haben die Leipziger AktivistInnen im Sinn. Sie betreiben im Gegenteil klassische zivilgesellschaftliche Arbeit indem sie Druck auf staatliche Instanzen ausüben und eine öffentliche Debatte anzuschieben versuchen. Indem sie Kritik an einer Gesellschaft, die die alltägliche und institutionelle Abwertung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft nicht nur toleriert, sondern sogar diskursiv vorantreibt (siehe die Zustimmung zu Tilo Sarrazins rassistischem und sozialdarwinistischen Buch „Deutschland schafft sich ab“, das die Bestseller-Listen anführt oder die Studien zur Verbreitung von Ideologien der Ungleichwertigkeit/ gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit von Brähler/ Decker und Wilhelm Heitmeyer) üben, Kritik an einem politischen System, das Zuwanderung ökonomischen Kriterien unterwirft, einem System, das Menschen im Warten auf die Bewilligung von Asyl in Heimen und mit minimaler monetärer Ausstattung dahinvegetieren lässt etc.
Wenn Neonazis vor Gericht eine ihrer Ideologie entsprechende Tatmotivation leugnen, wenn Alkoholkonsum als Entschuldigung für eine Beschleunigung von „nicht-zielgerichteter Gewaltsausübung“ angeführt wird, muss der/ die kritische Beobachter/in skeptisch werden. Auch sich als kritisch verstehende Medien und Polit-Zusammenhänge.
Ist ein alkoholisierter Rassist, der zusticht, weniger Rassist als einer, der nüchtern „nur“ zuschlägt? Macht ein menschenverachtender Spruch auf den Lippen Gewalttaten von Rassisten eindeutiger? Legen Anhänger der Neonaziszene ihre Ideologie von heute auf morgen ab, wenn sie Abstand von organisierten Zusammenhängen nehmen?
Diese Fragen werden von den vollmundigen KritikerInnen nicht beantwortet.
In einem Zehn-Zeiler zur Demonstration des Initiativkreises Antirassismus am 29.12.2010 verweist die Leipziger Volkszeitung am 30.1.2. auf innerlinke Kritik an der Deutung und Behandlung des Mordes an Kamal durch den Initiativkreis Antirassismus. Dass die LVZ die Kritik von sich explizit nicht als links verstehenden Akteuren wie dem Bündnis gegen Antisemitismus und einzelnen Protagonisten vom Antifaportal Freiberg aufgreift, anstatt das Anliegen der Demo zu thematisieren, spricht für sich. Dass Post-Antideutsche bzw. IdeologiekritikerInnen hier also einen (wirklich) kleinen Pressecoup gegen den so verhassten „linken Konsens“ landen konnten, hat einen bitteren Beigeschmack. Die, die gegen die „Rassifizierung des Antirassismus“ polemisieren, wollen die strukturelle Bevorteilung der weißen deutschen Mehrheitsbevölkerung, die sich zuhauf gewaltförmig ausdrückt, nicht sehen. Der Tod von Kamal ist dafür nur ein Beispiel. Fast täglich wird in Sachsen ein rechts motivierter Übergriff praktiziert.
Derweil ist die mit Blumen und Bildern gesäumte Gedenkstelle für Kamal am Ort des Geschehens inzwischen verschwunden. Erst die Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft, der Prozessauftakt, wird wieder für öffentliche Aufmerksamkeit sorgen. Dort werden die Mutter und zwei Brüder als NebenklägerInnen gegen die staatsoffizielle Auffassung, dass es sich bei dem Mord um einen „Unfall“ handelte, hoffentlich erfolgreich angehen.
Die Frage ist: War Kamal K. wirklich „ein Mensch mit erkennbarem Migrationshintergrund“? Sprach er nicht akzentfrei Deutsch? Und hätte er – mit den Augen eines Neonazis betrachtet – nicht auch äußerlich als „Volksdeutscher“ durchgehen können?
Worauf ich hinaus möchte, mal ganz krass formuliert: Ist es nicht ein Zeichen gelungener „Integration“, wenn ein Neonazi einen Migranten tötet, ohne dass das gleich einen rassistischen Hintergrund hat?