„Ein bedeutender Teil der Bevölkerung rebelliert, vielleicht auf fragwürdige Weise, aber er rebelliert. Ist das nicht die notwendige Voraussetzung für einen Bruch mit dem Konsens der Passivität, auf den die Politik bisher bauen konnte? Im Protagonismus der Bewegungen steckt das Bedürfnis nach einem Antagonismus.“
Die italienische Linke ist seit vielen Jahren zersplittert und verliert politisch immer mehr an Bedeutung. Um einer neuen Linken zu alter Stärke zu verhelfen, plädiert Fausto Bertinotti seit langem für eine Öffnung der traditionellen Linksparteien hin zu den sozialen Bewegungen. Er war von 1994 bis 2006 Generalsekretär der Partei »Rifondazione Comunista« und von 2006 bis 2008 Präsident des italienischen Parlaments. Heute gibt er die Zeitschrift Alternative per il Socialismo heraus. Die Jungle World sprach mit ihm über die Möglichkeiten des Widerstands gegen die Austeritätspolitik in Italien und Europa.
Interview: Catrin Dingler, erschienen in: Jungle world # 5 vom 2.2.2012
Sie haben den Regierungswechsel in Italien einen kalten Putsch genannt. Wer waren die Putschisten?
Ich wollte mit der Bezeichnung die Widersprüchlichkeit zum Ausdruck bringen, dass wir in Italien eine Aussetzung der Demokratie erleben, allerdings ohne die blutigen Charakteristika eines Putsches. Die Europäische Zentralbank hat im August vergangenen Jahres der italienischen Regierung in einem Brief mitgeteilt, was sie in der Krise zu tun habe. Nachdem es Berlusconis Regierung nicht gelungen war, diese Vorgaben umzusetzen, kam es im November zur Regierungskrise. Es wurden aber keine Neuwahlen angesetzt, sondern es wurde eine Regierung von Technokraten nominiert. Diese Regierung ist eine Art Prokonsulat der europäischen Kommandozentrale.
Die Opposition lobt den neuen Stil der Regierung und unterstützt die Politik von Ministerpräsident Mario Monti. Warum hat die parlamentarische Linke ihm nichts entgegenzusetzen?
Ihre Schwäche ist ihrer exzessiven Opposition gegen die Person Berlusconi geschuldet – so paradox das klingen mag. Die Linke hat sich von der Personalisierung der Politik blenden lassen, sie hat Berlusconi zu einem Monster erklärt und dieses Monster bekämpft, damit aber jede Beziehung zu den sozialen Bewegungen verloren, die gegen seine Politik protestierten. Die Abtrennung des sozialen Konflikts von der politischen Opposition hat die italienische Linke geschwächt. Sie hat in den vergangenen 20 Jahren ihre Fähigkeit verloren, die Gesellschaft aus einem klassenspezifischen Blickwinkel zu betrachten. Deshalb erscheint ihr die Regierung Monti anständig, obwohl es eine Regierung der italienischen Bourgeoisie ist, die eine konsequente Klassenpolitik vertritt.
Sie sprechen von einer politischen »Oligarchie«, die einen »neoautoritären Zaun« errichte. Können Sie diese Metapher erklären?
Dieses Bild beschreibt die Konstruktion einer Festung. Innerhalb dieser Einhegung werden alle Entscheidungen gefällt. Formal wird der Regierung, den Parteien und den euphemistisch als Sozialpartner bezeichneten Organisationen der Zutritt gewährt. Aber im umzäunten Gebiet gibt es nur Nuancen derselben Politik, keine unterschiedlichen Ansätze. Es entsteht ein unbestimmtes Konglomerat, dessen Entscheidungen nicht mehr gut oder schlecht, im Interesse der einen oder der anderen Klasse sind, sondern notwendig, um vermeintlich Schlimmeres, das Chaos, zu vermeiden.
Wenn die neoautoritäre Abschottung charakteristisch ist für die derzeitige Demokratie, welche Möglichkeiten gibt es dann noch für eine demokratische Opposition?
Es kommt darauf an, diesen Prozess mit all seinen Widersprüchen und Konflikten zu verstehen. Die wichtigste politische Frage heute lautet: Was passiert außerhalb dieses Zauns? Meiner Meinung nach bilden sich dort Bewegungen, die weltweit gegen diese Abschottungstendenz mobilisieren.
Ihre Metaphern beschwören das Stadtbild von Genua anlässlich des G8-Gipfels 2001: Die Einzäunung einer »roten Zone« und draußen die Antiglobalisierungsbewegung. Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen den heutigen Protestbewegungen und den damaligen No-Globals?
Ich sehe eher Unterschiede. Zunächst ist der Kontext ein anderer: 2001 befanden wir uns inmitten der expansiven Phase der kapitalistischen Globalisierung mit all ihren großartigen Verheißungen. Heute erleben wir die Krise der Globalisierung, statt der Glücksversprechen progressiver Modernisierung wird die Unausweichlichkeit von Entscheidungen propagiert. Der zweite Unterschied betrifft die Subjektivität des Protests: Die Antiglobalisierungsbewegung stand noch in einem, wenngleich konfliktgeladenen, Spannungsverhältnis zur organisierten Politik, zu den Parteien der Linken. Die Subjektivität, die wir zurzeit in der Sphäre der Revolte erleben, hat sich von der Parteipolitik gelöst.
Was meinen Sie mit der Sphäre der Revolte?
Unter einer Revolte verstehe ich spontane, massenhafte Phänomene der Rebellion. Von einer Sphäre spreche ich, weil sich die Proteste nicht durch eine weltweite Einheitlichkeit auszeichnen, wohl aber Elemente einer bestimmten kulturellen Tendenz auszumachen sind. Die Tatsache, dass in Nordafrika Regime gestürzt wurden, die für die Ewigkeit bestimmt schienen, hat ansteckend gewirkt, in Spanien entstand die Bewegung der »Indignados« und in New York »Occupy Wall Street«.
Was verbindet die Aufständischen in Nordafrika mit den Protestierenden in Europa und den USA?
Erstens der Slogan »Wir zahlen nicht für eure Krise«. Auch wenn er nur schwer zu realisieren sein wird, signalisiert der Slogan eine Auflehnung gegen die Zumutung, für die Konsequenzen der Krise des globalen Finanzkapitalismus einstehen zu müssen. Zweitens der Anspruch, eigenhändig eine neue demokratische Ordnung zu konstruieren. Oft wurde betont, die Protestforen seien nur über die neuen Kommunikationsformen miteinander verbunden, aber die virtuelle Plattform ist nur deshalb so wirkmächtig, weil es reale Plattformen gibt, wo sich die in der kapitalistischen Krise vereinzelten Subjekte wiedererkennen und zum Protest zusammenschließen. Wer sich für die Konstitution einer neuen Linken interessiert, sollte diese neue politische Kultur ernstnehmen.
Pietro Ingrao, der große alte Mann der italienischen Linken, behauptete jüngst: »Empörung reicht nicht!«
Es ist leicht, der Bewegung vorzuwerfen, dass sie keine Resultate vorweisen könne. Aber mit dem größten Respekt für Ingrao, der zu den bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte des italienischen Kommunismus zählt, möchte ich einwenden: Welche Resultate haben die Organisationen der politischen Linken in den zurückliegenden Jahrzehnten erzielt? Wer eine so katastrophale Bilanz vorzuweisen hat wie die Linke, kann keine Lehren erteilen.
Was kann die Linke stattdessen tun?
Man muss diese Empörung analysieren: Ein bedeutender Teil der Bevölkerung rebelliert, vielleicht auf fragwürdige Weise, aber er rebelliert. Ist das nicht die notwendige Voraussetzung für einen Bruch mit dem Konsens der Passivität, auf den die Politik bisher bauen konnte? Im Protagonismus der Bewegungen steckt das Bedürfnis nach einem Antagonismus.
Die Proteste gegen Montis Renten- und Arbeitsmarktreformen haben in den vergangenen Wochen an Schärfe gewonnen. Der Streik der LKW-Fahrer hat insbesondere den Süden Italiens lahmgelegt. Die Anpassung an die sogenannten europäischen Standards verläuft nicht reibungslos.
Italien weist einerseits Elemente einer quasi pathologischen Rückständigkeit auf, andererseits gibt es in Italien die fortschrittlichsten demokratischen Errungenschaften. Wir sind in eine Phase eingetreten, in der es um die Frage geht, was vom europäischen Sozialstaatsmodell übrig bleibt. Die neoautoritären Oligarchien haben ein präzises Ziel: Die Rückeroberung jener Freiräume, die dem Kapital durch Klassenkämpfe und erfolgreiche linke Politik in der Vergangenheit abgerungen worden sind. Da die italienische Arbeiterklasse sehr stark war, fällt die kapitalistische Revanche hier besonders hart und bitter aus.
Die Proteste zeichnen sich nicht immer durch emanzipatorische Forderungen aus, es werden auch nationalchauvinistische und rassistische Ressentiments geschürt. Besteht die Gefahr, dass sich der rechtspopulistische Mob organisiert?
Zweifellos produzieren die technokratischen Ordnungen, die überall in Europa installiert werden, die Gefahr, dass die gesellschaftlichen Verwerfungen zu einem neuen Rechtspopulismus führen. Dabei scheint mir die Gefahr einer Ausweitung der traditionellen Sphäre der Rechten geringer, als das rechtspopulistische Abdriften von Kräften, die traditionell der Linken angehören. Weil es keine organisierte politische Linke gibt, die auf die sozial begründeten Rebellionen zu reagieren versteht, könnten die Revolten in eine undifferenzierte Totalopposition umschlagen. Das gilt übrigens nicht nur für Italien, sondern für ganz Europa. Doch einmal mehr glaube ich, dass nur die sozialen Bewegungen die Möglichkeit haben, diese Gefahr abzuwehren. Sie besetzen denselben Platz, den auch der Rechtspopulismus für sich beansprucht. Deshalb sind die sozialen Bewegungen oft so ambivalent, in der Sphäre der Revolte findet sich alles. Die Aufgabe einer Linken, die zu neuem Leben erwachen will, besteht nicht darin, den klugen Lehrmeister zu spielen, sondern in die Bewegungen hineinzugehen, ihre unterschiedlichen Sprachen und Kulturen zu verstehen und nach Verbindungen zu suchen.
Sehen Sie im Moment Ansätze, dass sich verschieden Gruppierungen zu einer starken oppositionellen Kraft verbinden?
In Italien ist es der Metallgewerkschaft Fiom gelungen, mit der Schüler- und Studentenbewegung zu kooperieren. Das Bündnis stellt sich im Namen eines alternativen Produktions- und Demokratiemodells gegen den Versuch, den Konflikt aus den Fabriken zu verbannen und die Subjektivität der Arbeiter auszulöschen. Weitere Brücken zu bauen und die Autonomie des Konflikts zu verteidigen, scheint mir aktuell die größte Herausforderung.