Ausführlicher Rückblick auf den 20.8.2011 in Leipzig
Am 20.8.2011 hatten sich wieder einmal Neonazis in Leipzig angekündigt. Vor dem Völkerschlachtdenkmal sollten ganztägig Redner von NPD und aus dem „Freie Kräfte“-Spektrum sowie Rechts-Rock-Bands menschenverachtende und antidemokratische Ideologien zum Besten geben. Die von der NPD Sachsen angemeldete Kundgebung war in vielerlei Hinsicht bedeutsam für die Naziszene. Sie sollte als erste öffentliche Veranstaltung der am 1. Juli gestarteten NPD-Kampagne „Raus aus dem Euro“ fungieren. Der Aufmarschort, das Völkerschlachtdenkmal, ist zudem für die Nazis mit besonderer Bedeutung aufgeladen: das Monument ist ihnen auch heute nationalistisches Sinnbild, das an den deutschen bzw. preußischen Sieg gegen Frankreich 1813 erinnert, andererseits hatte seit 1998 keine Nazi-Versammlung mehr an diesem Ort stattgefunden. Nicht zuletzt nahm die NPD Bezug auf das im April vom Sächsischen Verfassungsgerichtshof gekippte Sächsische Versammlungsgesetz, mit dem Demonstrationen u.a. am Völkerschlachtdenkmal untersagt bzw. erschwert werden sollten.
Dass die Nazis am 20.8. die Form einer stationären Kundgebung wählten, kann auf ihre Angst vor wirksamem Protest zurückgeführt werden. Im Oktober 2009 hatten mehrere Tausend Menschen den Aufmarsch von fast 1.400 „Nationalen Sozialisten“ in Leipzig verhindert. Auch ein Jahr später, im Oktober 2010, gingen gleich vier von den Nazis angemeldete Demonstrationen in Leipzig in die Hose. Die Initiative zum Protest war in beiden Fällen maßgeblich vom Aktionsnetzwerk Leipzig nimmt Platz, einem Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Initiativen und Vereinen, Jugendverbänden, Parteien, Gewerkschaften und kirchlichen Gruppen, ausgegangen. Den Nazis den Platz nehmen, war das Motto der diesjährigen Gegenmobilisierung des Aktionsnetzwerkes. In der Nähe des Aufmarschortes der Nazis wurden verschiedene Kundgebungen angemeldet, die auch als Ausgangspunkte für Aktionen des zivilen Ungehorsam gegen die Naziveranstaltung dienen sollten. Außerdem sollten an über 30 Kirchen in der Stadt und an Stolpersteinen, die im gesamten Stadtgebiet an Opfer des Nationalsozialismus erinnern, Mahnwachen stattfinden. Am Vorabend des 20.8. war auf dem Platz, den die Nazis wenige Stunden später für ihre Propaganda nutzen wollten, eine Kunst-Kreide-Aktion geplant.
Im Gegensatz zur Stadt Dresden ging Leipzig bisher recht offen und kooperativ mit Protesten gegen Neonaziaufmärsche um. Doch in diesem Jahr gestaltete sich die Kooperation mit den städtischen Behörden ungewohnt schwierig. So wurden die Kundgebungen in Hör- und Sichtweite zur Naziveranstaltung anfänglich abgelehnt. Erst als das Aktionsnetzwerk sich mit einem offenen Brief an den Oberbürgermeister der Stadt wendete, auf die Tradition erfolgreicher Proteste gegen Nazidemos in der Stadt und auf das vom Bundesverfassungsgericht unterstrichene Recht auf Protest in Hör- und Sichtweite hinwies, wendete sich das Blatt und der Großteil der Aktionsnetzwerk-Kundgebungen wurde genehmigt.
Wenige Tage später – zwischenzeitlich hatten OBM und demokratische Stadtratsfraktionen gemeinsam dazu aufgerufen den Nazis entgegenzutreten – und nur drei Tage vor dem 20.8. allerdings präsentierte die Stadt Leipzig im Schlepptau der Polizei ihren Masterplan, der das Verbot aller Versammlungen sowohl am 19. als auch am 20.8.2011 beinhaltete. Begründet wurde das Verbot mit polizeilichem Notstand. Die Polizei hätte nach eigenem Bekunden zur Absicherung der Naziveranstaltung 43 Einsatzhundertschaften benötigt, außerdem sei mit einem erheblichen Anteil gewaltbereiter DemonstrantInnen zu rechnen. Bundesweite Anfragen nach Polizeikräften hätten aufgrund anderer Veranstaltungen – Bundesligaspiel, Schanzenfest in Hamburg und eine Demo gegen Stuttgart 21 – kein zufriedenstellendes Ergebnis gebracht. Der Leipziger Polizeipräsident Horst Wawrzynski garnierte die Fakten mit tendenziösen Kommentaren. „Es wird Verletzte geben“ bekundete er beispielsweise im Hinblick auf mögliche juristische Schritte gegen die Verbote.
Das Aktionsnetzwerk reagierte auf die Verbotsverfügungen der Stadt Leipzig, die eben auch die Mahnwachen und die Kunst-Kreide-Aktion am 19.8. einschloss, mit scharfer Kritik. Die Argumente der Stadt bzw. Polizei wirkten hemdsärmelig und außerdem sei ein derart weitreichender Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht hinnehmbar. Nicht die Einschränkung von Demokratie, wie es Verbote und Angstmache sind, seien die richtigen Mittel in der Auseinandersetzung mit Ideologien der Ungleichwertigkeit und deren öffentliche Zurschaustellung, sondern eine breite zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung und Mobilisierung dagegen.
Schlußendlich zogen die AnmelderInnen der Protestveranstaltungen gegen das Verbot vor das Verwaltungsgericht, die Nazis taten es wie erwartet gleich.
Am 19.8. gab das Verwaltungsgericht Leipzig den verschiedenen Eilanträgen weitestgehend statt: die Nazi-Kundgebung sollte zeitlich verkürzt und an einem neuen Ort, dem Hauptbahnhof, stattfinden. Sechs Protestkundgebungen wurden zu zweien zusammengefasst und räumlich in „Rufweite“ zur Nazi-Veranstaltung gelegt. Die Begründung des Verwaltungsgerichtes war dabei in Teilen bemerkenswert. Es verwies auf den hohen Rang der Versammlungsfreiheit und die hohen Anforderungen, die sich daraus für einen polizeilichen Notstand ergeben. Dieser sei durch Stadt/ Polizei nicht ausreichend begründet worden. Statt Tatsachen wären bloße Verdachtsmomente – z.B. wurde die Zahl der Nazis von 500 auf 2000 hochgesetzt und der Anteil von „gewaltbereiten DemonstrantInnen“ willkürlich auf je 10 – 20 % veranschlagt – angeführt worden. Die Vorabend-Kunst-Aktion sowie die Mahnwachen an Kirchen und Stolpersteinen blieben dagegen verboten.
Die Stadt Leipzig beharrte zusammen mit der Polizei jedoch auf ihrer Argumentation, legte beim Oberverwaltungsgericht Beschwerde gegen die Durchführung der NPD-Versammlung sowie der Gegenkundgebungen ein und bekam Recht. Am 20.8.2011 durften in Leipzig weder die Feinde von Demokratie und Menschenwürde noch die, die Demokratie und Menschenwürde verteidigen, demonstrieren.
Zwar kann es als politischer Erfolg bezeichnet werden kann, dass die Nazis am 20.8. nicht in Leipzig aufmarschieren konnten und schlussendlich auf das Privatgrundstück des NPD-Abgeordneten Winfried Petzold in Roda ausweichen mussten. Es muss allerdings die Frage gestellt werden zu welchem Preis dieser Erfolg eingekauft wurde. Schließlich wurde dafür die Versammlungsfreiheit und damit Artikel 8 Grundgesetz weitestgehend außer Kraft gesetzt.
Rund 400 Menschen gelang es am 20.8. dennoch eine Demonstration durchzusetzen und damit die Kritik an der Beschneidung der Demokratie auf die Straße zu tragen. Unter dem Motto “Das Problem heißt Sachsen. Gegen Repression, hier und überall” wurde der Bogen von den Vorgängen in Leipzig zur demokratische Prinzipien unterlaufenden, repressiven sächsischen Politik geschlagen.
Im Nachgang zum 20.8. stellen sich grundlegende Fragen zum Verhältnis von Grund- und Freiheitsrechte und dem Kampf gegen Neonazis, die auch für die Positionierung der LINKEN von Bedeutung sind:
Sind Verbote ein opportunes Mittel gegen Naziveranstaltungen, wenn sie wie in Leipzig geschehen weit reichende Eingriffe in Grundrechte aller bedeuten? Ist es politisch vertretbar, dass eine Stadtverwaltung die Auseinandersetzung mit Nazis weitestgehend auf die juristische Ebene verlagert? Wird der Rechtsstaat nicht konterkariert, wenn so weit reichende Mittel wie Versammlungsverbote derart kurzfristig erlassen werden, dass Betroffenen und Gerichten nur noch minimale Zeitspannen für Rechtsmittel bzw. Entscheidungen zur Verfügung stehen?
Großmütig bekundete der Leipziger Polizeipräsident nach dem 20.8., dass der polizeiliche Notstand nicht zum Regelfall werden soll und Demonstrationen auch wieder möglich seien, wenn genügend Polizeikräfte zur Verfügung stünden. Das Aktionsnetzwerk Leipzig nimmt Platz reichen solche Ansagen nicht. Es hat entschieden mittels Fortsetzungsfeststellungsklagen zu überprüfen ob das Vorgehen der Stadt Leipzig in Bezug auf die Versammlungen am 19.8. und 20.8. rechtswidrig war. Diesmal hat das Gericht zumindest genügend Zeit zu urteilen. Hoffentlich im Sinne der Versammlungsfreiheit, die kein Ausnahme- sondern Regelfall ist und bleiben muss.
Ein Gedanke zu „Die Beschneidung der Demokratie als Mittel gegen die Feinde der Demokratie?“