Ich war eingeladen für das Begleitheft zur Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums „Kennzeichen L“ zu schreiben. Ich widme mich in meinem Text den Schatten des Wachstumshypes: Armut bleibt in Leipzig ein drängendes Problem vieler Menschen.
„Warum Leipzig jetzt Hypezig ist. Eine neue deutsche Erfolgsgeschichte“ (Immobilienportal EverEstate)
Leipzig hat in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung hingelegt und ist trotz stagnierenden Zuzugs die am stärksten wachsende Stadt der Bundesrepublik. Eine, über die weiter viel und in hohen Tönen geschrieben wird.
Doch die Erfolgsgeschichte hat einen Haken: Im Windschatten des anhaltenden Hypes ist die virulente soziale Ungleichheit in der Stadt kein Aufreger mehr. Hinter den Erfolgsmeldungen von Wachstum, steigendem Einkommensniveau und Nachhaltigkeit verschwinden mehr und mehr die sich verfestigenden Armutslagen.
Von Hype und Boom profitieren vor allem Besserverdienende und Vermögende. Statistische Untersuchungen zeigen zudem, dass Zugezogene nicht nur über höhere Bildungsabschlüsse verfügen, sondern auch über ein besseres Einkommen als hier Geborene.
Flankiert wird die prosperierende Mittelschicht in Leipzig von fast 15.000 armen Kindern und Jugendlichen sowie einer nahenden, massiven Welle von Altersarmut. Mittendrin finden sich die prekär Beschäftigten, welche weiterhin etwa 29 Prozent der Erwerbstätigen ausmachen. Daran zeigt sich eindrucksvoll: Die von der Stadtspitze immer wieder betonte positive Einkommensentwicklung zieht sich eben nicht durch alle Schichten der Stadtgesellschaft.
Ein Drittel der armutsgefährdeten Menschen in Leipzig ist erwerbstätig, darunter überproportional viele Solo-Selbstständige. Die kommunale Bürger*innenumfrage 2020 kommt zum Ergebnis, dass insbesondere Niedriglöhner*innen im Zuge der Corona-Pandemie besonders stark unter Einkommensverlusten zu leiden haben – jene also, die auch jenseits der aktuellen Situation prekär leben müssen.
Die verfestigte Armut in Leipzig zeigt sich vor allem sozialräumlich: in den Plattenbaugebieten im Westen und in verschiedenen Vierteln im Osten der Stadt. Segregation ist Realität und angesichts steigender Mieten, die einen Umzug nahezu unmöglich machen, kaum mehr aufzubrechen.
Armut bedeutet für die Betroffenen in Leipzig ganz konkret gesellschaftliche Ausgrenzung: Wenn etwa erwerbslose Familien keinen Kita-Platz bekommen, weil Eltern mit Job den Vorzug bekommen oder sich einen Platz erklagen, und Alleinerziehende mit ihren Kindern nicht in den Urlaub fahren können, weil das Geld fehlt, aber auch bei der Wohnungssuche, wo das Angebot für Menschen mit niedrigem Einkommen nahezu gen Null geht und insbesondere für die proportional stärker armutsgefährdeten Migrant*innen weitere Schranken durch rassistische Ausschlussmechanismen bestehen.
Über die raren, neu entstehenden Sozialwohnungen können Hartz-IV-Bezieher*innen nur die Schultern zucken: Sie werden sich diese nicht leisten können. Nicht zuletzt ist die viel beschworene „Bürgerstadt“ spätestens dann Makulatur, wenn nur Privilegierte von Beteiligungsmöglichkeiten Gebrauch machen (können).
Das Bevölkerungswachstum kaschiert nur die fortschreitende ökonomische Benachteiligung nicht unbeträchtlicher Teile der Stadtbevölkerung. Es ist Aufgabe von Stadtgesellschaft und -politik, dieses Problem zunächst sichtbar zu machen, diesen Missstand kritisch zur Sprache zu bringen und zur Tat zu schreiten.
Denn „Hypezig“ wird seinem Namen erst dann gerecht, wenn alle hier lebenden Menschen an der Erfolgsgeschichte teilhaben können.
Mai 2021