Offener Brief: Jugendmedienschutz-Staatsvertrag ablehnen!

Dass die Linksfraktionen in den Landtagen den JMStV ablehnen und sich nicht einer zweifelhaften Koalitionsdisziplin mit der SPD unterwerfen, fordert ein Offener Brief von LINKE-PolitikerInnen aus Sachsen

Offener Brief aus Sachsen >>> unterzeichnen!

Liebe Genossinnen und Genossen,

es geht etwas um im Netz[1] und nicht nur dort. Auf mehreren Webseiten, wie z.B. bei netzpolitik.org und blog.fefe.org findet sich zur Zeit der Hinweis, dass die Linksfraktionen in Berlin und vermutlich auch in Brandenburg dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) zustimmen werden. Das wäre, mit Verlaub, ein netzpolitisches Fiasko für linke Politik.

Kann man aus strategischen, mit Bauchschmerzen erfüllten Erwägungen, jedwedem Unsinn zustimmen?

Das gab es bei der Linken im Bereich Netzpolitik bisher noch nicht: Die Fraktion der Partei Bündnis 90/Die Grünen im nordrhein-westfälischen Landtag signalisierte entgegen eines Parteitagsbeschlusses ihre Zustimmung zum JMStV und es entlud sich ein Sturm der Entrüstung im Netz. Ob auf Twitter, in Blogs, sozialen Netzwerken, die Netzgemeinde konnte die Begründung der Grünen für diese Entscheidung kaum fassen. Sie lautete: “Wir sind weiterhin gegen den #JMStV, die Fraktion hat sich aufgrund parlamentarischer Zwänge anders entschlossen.”[2]

Der JMStV will unter anderem die Alterskennzeichnung von Websites, die dann von noch nicht entwickelten Jugenschutzprogrammen ausgelesen werden kann. Also alle Menschen, die eine Webseite betreiben, sollen zunächst ihre Inhalte überprüfen, ob sie der Jugend (bis 6, 12, 16 oder 18 Jahren) zugänglich gemacht werden sollen (und jetzt mag ja mensch überlegen, wie viele Einträge in dem eigenen Blog liegen). Gleichzeitig müssen die Blogs technisch so ausgerüstet werden, dass sie ausgelesen werden können.
Jede Seite auf deutschen Servern, ob persönliches, privates oder gemeinnütziges Blog oder Fotoalbum, Webseiten Klein- und mittelständischer Unternehmen, selbst parteieigene Internetauftritte – eben jede Website – wäre davon betroffen! Und es gibt dato allein ~14 Millionen .de Domains – und nicht nur die wären betroffen. Wie bei Filmen bekannt, sollen dann z.B. Labels „ab 18/16/12/6/0“ etc. auf den Seiten prangen. Wo ist das Problem?

Eigentlich wird bei Webseiten die Alterskennzeichnung als freiwillig benannt, faktischer Zwang trifft es wohl besser. Denn die Alternativen dazu wären feste Sendezeiten („Diese Webseite(n) erreichen sie nur 22 – 6Uhr“) oder technische Blockierung des Zugangs zur betreffenden Website. Den Vogel schießt natürlich die Idee der Sendezeiten ab. Das Internet als Rundfunkgerät. Abgesehen davon ist eine nationale Insellösung im Netz ohne Sinn: Spätestens dann, wenn sich bei internationalen Websites herumspricht, eine Alterskennzeichnung „Ab 0“ einzutragen, damit die deutschen Filterprogramme einen durchlassen, ist der nächste Schritt zum Gipfel der Absurdität des Jugendschutzes erreicht.

Diese Alterskennzeichnung kann entweder von der FSM (Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia) vorgenommen werden, sofern man bei ihr Mitglied ist und dafür mindestens 4000 Euro im Jahr bezahlt oder man erledigt dies selbst. Angesichts teilweise riesiger Archive und Artikel und teilweise unklarer Rechtslage ist das eine nicht einfach mal so zu erledigende Aufgabe – vor allem verbunden mit viel Zeit für die Überprüfung der eigenen Artikel und auch Geld für den persönlichen Blogger.

Der Arbeitskreis Zensur [3] hat in letzter Zeit mehrere Webseiten von Besuchern bewerten lassen, ab welchem Alter diese wohl geeignet wären. Das Ergebnis waren 80% falsche Annahmen, setzt man die offiziellen Richtlinien an. Der Einwand, dass eine Website die ab 6 oder 12 Jahren geeignet ist, bedeute keinen weiteren Aufwand für den Betreiber, ist offenkundig falsch. Wenn eine Besprechung eines ab 16 Jahren zugelassenen (FSK16) Computerspiels verlinkt ist oder Fotos von Operationen gezeigt würden– wie eben auf einer Tierheimseite geschehen – wäre es um diese „einfache“ Einstufung schon geschehen. Und was ist eigentlich mit dem Wikipediaeintrag zu „Sexualität“? Bilder von Kondomen? Die Erwähnung des Wort „Sex“ in einem politischen Artikel?

Wenn schon Drogen- und Sexualitätsaufklärungsseiten, wegen „falscher“ Terminologie den „ab 18“ Stempel bekommen, bleibt auch Eltern wenig übrig, als die Filter einfach abzuschalten. Der beabsichtigte „Schutz“ verkehrt sich komplett in ein Wettrennen zum Überwinden der technologischen Sperre.

Fragwürdig ist damit auch der (medien)pädagogische Nutzen. Kinder und Jugendliche lernen so nicht, wie man mit dem Internet umgeht. Sie wissen nicht, dieses Medium kritisch zu betrachten. Ganz abgesehen davon, dass die Umgehung von solchen Filterprogrammen keinerlei Magie, sondern einfach zu bewerkstelligen ist, fragen wir uns, wie auf diesem Weg die oft geforderte Medienkompetenz gestärkt werden soll?

Am Dienstag den 30.11.2010 haben die ersten Webseitenbetreiber angekündigt, ihre (nicht kommerziellen) Angebote ab 1.1.2011 zu schliessen, da sie nicht in der Lage sein werden, jeden Beitrag, jeden Kommentar „altersgerecht“ einzustufen. Weitere Blogs und Podcasts folgten prompt und es werden noch mehr.

Die Linke in Regierungsverantwortung in Berlin und Brandenburg ist das Zünglein an der Waage. Es gibt eine Chance dieses Gesetz zu stoppen.

Und wie es Dr. Gabriele Hiller (Medien- und sportpolitische Sprecherin) im Plenum sagte[4]:

„Wir haben eine Chance in Berlin. Hier gibt es die kreative Szene – schade, der Bürgermeis-
ter weiß es nun gerade nicht als Verantwortlicher für Medien. Wir haben die Chance, den Diskussionsprozess in die Gesellschaft hineinzuführen. Niemand zwingt uns.
Es gibt keinen Zeitdruck, dieses Gesetz jetzt durchzuziehen. Deshalb sollten wir uns die Zeit nehmen, wissend, dass wir 16 Parlamente sind, aber auch wissend, dass
eines dieser Parlamente ablehnen kann und damit dieser Gesetzentwurf insgesamt abgelehnt ist. Lassen Sie uns diese Chance nutzen! Ich appelliere ganz besonders an
meinen sozialdemokratischen Koalitionspartner, dieses noch einmal auszuschreiben. Nur Mut! – Danke schön!“

Liebe Abgeordnete, ihr seid mit dem Auftrag gewählt worden, das Wahl- und auch Parteprogramm unserer Partei im Parlament zu vertreten und umzusetzen. Zum JMStV gibt es viele Statements unserer Partei und ihrer Arbeitskreise, die vieles wollen: Grundlegende Veränderung oder Neufassung. Aber eines sicher nicht: Die Umsetzung dieses Entwurfs.

Nicht Koalitionsdisziplin sondern das Vertreten linker Politik im Parlament wird von unserer Partei erwartet. Vor dem Hintergrund dieses Zitats und den vorher genannten Argumenten fordern wir euch entschieden und eindringlich auf gegen den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag zu stimmen!

Nur Mut, auch euch!

Initiator_innen:

Gregor Henker (Sprecher LAG Bürgerrechte & Demokratie Sachsen, Datenschutzbeauftragter der LINKEN Sachsen)
Matthias Gruber (Stadt- und Kreisrat Klingenthal/Vogtland, Mitglied des Bundesauschusses der LINKEN Sachsen)
Michael Lindner (Mitglied der LAG Bürgerrechte & Demokratie Sachsen)
Juliane Nagel (Stadträtin Leipzig, Mitglied des Landesvorstands der LINKEN Sachsen)
Julia Bonk (Sprecherin für Daten- und Verbraucherschutz & neue Medien der Linksfraktion im sächsischen Landtag)
Fabian Blunck (Jugendpolitischer Sprecher der LINKEN Sachsen)
Marko Forberger (Sprecher LAG Bürgerrechte & Demokratie Sachsen)
Katharina Weise (Bezirksverordnete Berlin, AG Digitale Demokratie)

0 Dieser Text entstand mit der Hilfe einiger Internetseiten, die überwiegend ab 18 eingestuft würden. Hinter technischen Sperren hätten wir und andere nicht mehr die Möglichkeit, diese einfach zu nutzen. Nach dem 1.1.2011 ist die Möglichkeit vorbei.

1 http://www.netzpolitik.org/2010/jugendmedienschutz-entscheidung-in-berlin/
2 http://twitter.com/#!/gruenenrw/status/9305356467445760
3 http://ak-zensur.de/jmstv/
4 http://www.parlament-berlin.de:8080/starweb/adis/citat/VT/16/PlenarPr/p16-069-wp.pdf

Quellen und Hintergrund

http://ak-zensur.de/download/jmstv-forderungen-akz.pdf

http://ak-zensur.de/download/JMStV-Brief–komplett.pdf
http://www.youtube.com/watch?v=5B9Fea9fgNA
http://t3n.de/news/neuer-jmstv-286977/
http://blog.beck.de/2010/11/30/jugendmedienstaatsvertrag-und-altersfreigabe-im-internet

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