Michèle Winkler, Referentin des Komitees für Grundrechte und Demokratie e.V., reichte am 6. August 2019 Klage gegen den Freistaat Sachsen, vertreten durch die Polizeidirektion Chemnitz, ein. Ihr war am 1. September 2018 in Chemnitz mit rund 350 weiteren Demonstrierenden über mehr als vier Stunden hinweg die Freiheit entzogen worden. Sie wurde von der Polizei ohne Begründung in einen schon bestehenden Polizeikessel geschoben. Die Klägerin sieht sich in ihren Grundrechten verletzt. Pressemitteilung des Grundrechtekomitees mit Äußerungen der Klägerin, ihres Rechtsanwaltes Christian Mucha und mir:
Rechtsanwalt Christian Mucha, der Michèle Winkler vertritt, sagt zur Klagebegründung: „Für das Vorgehen der Polizei in dieser Situation gibt es keine Rechtsgrundlage; es lagen weder die Voraussetzungen des Sächsischen Polizeigesetzes, noch die der Strafprozessordnung für eine solche Maßnahme vor.“
Juliane Nagel, die als Mitglied des Sächsischen Landtags vor Ort die Situation beobachtete, kommentiert: „Am Roten Turm wurden durch die Polizei wahllos Menschen zusammengetrieben und festgesetzt. Das ist keine Bagatelle, sondern Freiheitsentziehung. Zahlreiche Menschen haben sich noch im Nachhinein bei mir gemeldet und fordern Aufklärung des Polizeihandelns!“
Die Freiheitsentziehung durch Einkesselung der rund 350 Personen fand im Rahmen der Gegenproteste anlässlich mehrerer Aufmärsche rechter Akteure wie der AfD, Pegida und Pro Chemnitz am 1. September 2018 statt. Ein Großaufgebot der Polizei mit entsprechend armierter Ausrüstung war über Stunden widerrechtlich damit beschäftigt, die Identität der
eingekesselten und festgesetzten Gegendemonstrant*innen festzustellen.
Gegen 22 Uhr ließ sie die rund 230 noch nicht Identifizierten aus dem Polizeikessel frei. Währenddessen wurden an anderen Stellen an diesem Tag vielfach Pressevertreter*innen bedroht, tätlich angegriffen und verletzt [1]. Zudem wurden an diesem Abend eine Gruppe der Marburger SPD [2] und ein Mann mit afghanischem Pass Opfer rechter Gewalt [3].
Juliane Nagel kommentiert das Vorgehen der Polizei:
„Die Polizei hat sich auf der einen Seite stundenlang mit einer Maßnahme beschäftigt, deren Sinn höchst zweifelhaft bleibt und konnte in anderen Teilen der Stadt mehrere Menschen wie schon an den Vortagen nicht vor rechter Gewalt schützen. Diese Prioritätensetzung ist nicht hinnehmbar.“
Die Klägerin, Michèle Winkler, äußert sich zu weiteren Gründen der Klageeinreichung:
„Hier handelt es sich um ein strukturelles Problem der Polizei, die – ganz besonders in Sachsen – allzu oft versammlungs- und grundrechtsfeindlich agiert. Besonders in der gefährlich aufgeheizten Stimmung in Chemnitz in den Spätsommertagen 2018 kann es kein
Verständnis für das Polizeihandeln an besagtem Tag geben. Während sich viele Menschen wegen der großen Zahl an Nazis in der Stadt nicht sicher bewegen konnten, verbrachte die Polizei Stunden damit, sich an uns abzuarbeiten. Sie erklärte uns zunächst alle des Landfriedensbruchs verdächtig. Den Vorwurf führte sie später selbst ad absurdum, als sie
plötzlich die Kesselung aufhob und alle verbliebenen Personen ohne Identitätsfeststellung gehen ließ.“
[1] https://www.tagesschau.de/inland/chemnitz-uebergriffe-101.html
[2]
https://www.hessenschau.de/gesellschaft/marburger-spd-gruppe-offenbar-in-chemnitz-ueberfallen,marburger-gruppe-chemnitz-100.html
[3] https://taz.de/Polizeibilanz-zu-Demos-in-Chemnitz/!5532721/
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie setzt sich seit Jahrzehnten für eine ungehinderte Ausübung der Grundrechte, im Speziellen der Versammlungsfreiheit entlang der Linien des Brokdorf-Urteils von 1983 ein. Das Recht, sich zu versammeln, ist eine der wenigen, im Grundgesetz gegebenen Möglichkeiten, sich als Bürger*innen unmittelbar öffentlich zu äußern und selbst die Art der Öffentlichkeit thematisch und formal zu bestimmen. Im Fokus der Arbeit des Grundrechtekomitees standen dabei regelmäßig die Beobachtung und Bewertung von Polizeimaßnahmen, die die ungehinderte Ausübung dieses Grundrechts einschränken.
Pressemitteilung Köln / Leipzig 06.08.2019