Erstaufnahmeeinrichtungen sind umstritten. Für Christian Hartmann, (damals noch) innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag, sind sie notwendige Orte, in denen das Asylverfahren durchgeführt und die Frage geklärt werden muss, ob Geflüchtete im Land bleiben. Für Juliane Nagel, migrationspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, symbolisieren Erstaufnahmeeinrichtungen Orte, in denen es zu Gewalt kommen muss, mit schwerwiegenden Folgen gerade für besonders Schutzbedürftige.
Das Magazin des Sächsischen Flüchtlingsrats hat beide im vergangenen Sommer interviewt. Der Inhalt ist aktuell bzw. wird angesichts weiterer Asylrechtsverschärfungen aktueller denn je.
Bis 2015 ging der Trend zur dezentralen Unterbringung. Mit dem sogenannten Summer of Migration, also der verstärkten Ankunft von Geflüchteten in der EU im Allgemeinen und der Bundesrepublik im Besonderen, wurde zunächst auf Notunterkünfte gesetzt. Unabhängig davon, ob damals von einer Notsituation wirklich gesprochen werden konnte – die Zahl der Neuankommenden hat sich erheblich reduziert. Auch wenn Asylantragstellungen nicht mit der Zahl der Einreisenden zu verwechseln sind: 2015 suchten 441.889 Menschen um Schutz in Deutschland, 2016 dann der Peak mit 772.370 Asylantragstellungen und der starke Rückgang auf 198.317 in 2017. Von Januar bis Mai 2018 stellten 78.026 Geflüchtete einen Asylantrag. Nun soll das Sächsische Flüchtlingsaufnahmegesetz geändert werden und Menschen mit sogenannter geringer Bleibeperspektive verpflichtet werden, bis zu 24 Monate in der Erstaufnahme leben zu müssen. Herr Hartmann, warum die Trendwende wieder hin zur zentralen Unterbringung [i] bei zurückgehenden Zahlen?
Christian Hartmann: Wir wollen das gesamte Asylverfahren an einem Ort zusammenführen und zentralisieren weil wir erstens Kapazitäten vorhalten wollen. Das entspringt allein aus der Erkenntnis, dass die Fluchtbewegungen weltweit betrachtet nicht abnehmen werden.
Das zeigen die Entwicklungen im mediterranen wie afrikanischen Raum. Da heißt es, vorbereitet zu sein und das gelingt am Besten, indem zentrale Unterkünfte vorgehalten werden. Das bedeutet gerade nicht, dass wir in den Erstaufnahmeeinrichtungen oder auch, wenn wir an die Diskussion um die Ankerzentren denken, die Kapazitäten bis auf den letzten Platz füllen müssen.
Der zweite Punkt wird im Zusammenhang mit deutschlandweit über 126.000 vollziehbar Ausreisepflichtigen deutlich. Es ist notwendig, darauf zu reagieren denn Asyl und Rückführung sind zwei Seiten ein und dergleichen Medaille. Das Recht, Asyl beantragen zu können und zu erhalten, wenn entsprechende Gründe vorliegen, ist gegeben. Dann hat man auch eine Bleibeperspektive. Erfüllt man die Kriterien nicht, dann ist die Konsequenz die Rückführung. Ich besitze Empathie für die Schicksale, die jede Rückführung bedeutet. Nur, gesetzliche Normative bedingen, dass der Staat in jedem Fall konsequent handeln muss, in die eine wie in die andere Richtung. Schnelle Asylverfahren sind hierbei entscheidend und
die lassen sich am Besten durch eine zentrale Steuerung umsetzen. Allein schon, damit eine schnellstmögliche Integration derer mit Bleibeperspektive gelingen kann. Deswegen werden sie auch so bald wie möglich dezentral untergebracht. Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) entscheidet heute in Sachsen im Durchschnitt innerhalb von 3,1 Monaten über einen Asylantrag. Erstaufnahmeeinrichtungen gewährleisten, dass die Menschen für diesen Zeitraum beieinander bleiben. Das ist wichtig denn wir stellen fest, dass sich viele
Menschen der Abschiebung entziehen.
Kinder und Jugendliche in Erstaufnahmeeinrichtungen wurden bisher nicht beschult. Das Kultusministerium testet derzeit ein Curriculum in der Erstaufnahmeeinrichtung in Chemnitz. Anhand der Maßgaben sollen Kinder und Jugendliche in der Einrichtung direkt beschult werden. Die Forderung zivilgesellschaftlicher Akteure lautete, auch diese Schüler*innen in regulären Schulen zuzulassen. Wie hätte diese Forderung umgesetzt werden können, Frau Nagel?
Juliane Nagel: Die EU-Aufnahmerichtlinie besagt ein- deutig, dass der Bildungszugang für Kinder und Jugendliche spätestens drei Monate nach Antragstellung auf internationalen Schutz ermöglicht sein muss. Die Richtlinie hätte im Juni 2015 auch in Deutschland umgesetzt sein müssen. Das ist nicht passiert, auch Sachsen ist dem nicht nachgekommen. Als LINKE haben wir seinerzeit einen Gesetzesentwurf zum Flüchtlingsaufnahmegesetz in den Landtag gebracht, um dieser Norm gerecht zu werden.
Die Maßgaben der Aufnahmerichtlinie gehen dabei über den Bildungszugang hinaus. Wir wollten ihr entsprechend beispielsweise auch die Identifikation besonders Schutzbedürft iger sicherstellen sowie die rechtliche Beratung stärken. Das hätte das Bundesland auch umsetzen können, selbst wenn der Bund sich dem verweigert.
Das Kultusministerium hat nun zweieinhalb Jahre zu spät den Modellversuch in Chemnitz in einer von neun Erstaufnahmeeinrichtungen an den Start gebracht. Das ist zu wenig.
Der Grundfehler ist, und da schließen wir uns auch der Argumentation der zivilgesellschaft lichen Akteur*innen an, die Beschulung in Erstaufnahmeeinrichtungen.
Die Unterkünfte sind gewaltvolle und stressreiche Orte ohne Privatsphäre. Es sollte möglich sein, die Kinder und Jugendlichen in den Regelschulen zu integrieren. Das soll in den kreisfreien Städten geschehen, wo sich die Einrichtungen befinden. Ich komme aus Leipzig, ich weiß, wie sich die Situation an den Schulen dort darstellt. Aber es muss drin sein, zumindest für den Bereich Deutsch als Zweitsprache Reserveplätze vorzuhalten.
Hinzu kommt: die Zahlen der Kinder und Jugendlichen, die über drei Monate in den Einrichtungen leben, ist gering. Im Jahr 2016 waren es noch um die 300 betroffene Personen. Als ich das in diesem Jahr zum letzten Mal abgefragt habe, waren es Ende des ersten Quartals noch 58, die nach besagten drei Monaten noch nicht die Schule besuchten.
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