Jetzt ist´s raus: Die polizeiliche Kontrollpraxis in Connewitz und der Südvorstadt wird mit § 19, 1 Satz 1 Nr. 5 Sächsisches Polizeigesetz („Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüber- schreitende Kriminalität“) begründet. Dies ergibt die Antwort auf meine Kleine Anfrage.
Demnach wurden im Zeitraum 1. Januar 2013 bis zum 31.10.2014 in drei Zeitabschnitten insgesamt 17 Straßen im Stadtbezirk Süd ausgewiesen, in denen die Kontrollkompetenz der Polizei erweitert wurde. Als Begründung werden folgende Punkte angegeben: besonders schwerer Diebstahl, vor allem an/aus Kfz (Schwerpunkt: Navigationsgeräte), besonders schwerer Diebstahl von Kraftfahrzeugen und Betäubungsmittelkriminalität.
Über die Zahl der kontrollierten Personen kann die Polizei angeblich nichts sagen. Ebensowenig wie zur Zahl der durch die Kontrollpraxis aufgeklärten und verhinderten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten.
Es stellt sich die Frage wie es sein kann, dass die winzigen Randstraßen Fockestraße oder die Teichstraße als „Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität“ deklariert werden können. Auch die anderen auserwählten Straßen können nur mit viel Phantasie mit der Definition des Sächsichen Polizeigesetzes in Einklang gebracht werden, das den Begriff beispielhaft auf Grenzregionen und internationale Verkehrswege bezieht. Letztendlich obliegt die Einstufung allerdings der Polizei und wird politisch kaum anzutasten sein. Ich werde dies nichts desto trotz hinterfragen.
Dass der in Rede stehende Paragraph des Sächsischen Polizeigesetzes vor allem auch als Instrument zur Kriminalisierung einer politischen Szene in Leipzig-Connewitz und sonstiger unliebsamer Personen wie Migrant*innen dient, liegt auf der Hand. Schließlich entscheidet der/die einzelne Polizist*in darüber wer kontrolliert wird. Hier kommen verinnerlichte Feindbilder zum Tragen, Willkür ist Tür und Tor geöffnet. Eine Begründung für die verdachtsunabhängigen Kontrollen ist nicht notwendig, und wie sollte auch objektiv begründet werden wie ein/e Navi- oder Kfz-Dieb/in aussieht?
„Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität“ ordnen sich in das Paradigma der „Verrräumlichung von staatlicher Kontrolle“ (Bernd Belina) ein. Nicht durch konkrete Personen verübte Straftaten sind Anlass polizeilichen Handelns, nein allein der Aufenthalt an definierten „gefährlichen Orten“ macht verdächtig.
Verdachtsunabhängige Kontrollen und die Definition „gefährlicher Orte“ sind und bleiben ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte. Sie sind inbesondere in einem sowieso stigmatisierten Viertel wie Connewitz Grundlage für Polizeiwillkür.
In diesem Sinne: bleibt wachsam, lasst euch die Rechtsgrundlage für Kontrollen erklären, beachtet die Hinweise und EA- Protokoll von „Für das Politische“.
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Pressemitteilung vom 22.12.2014
Absurd und grundrechtlich bedenklich: Polizeikontrollen in Leipzig Süd wollen „grenzüberschreitende Kriminalität„ verhindern
Sachsens Polizei führt verdachtsunabhängige Kontrollen nach § 19 Abs. 1 Nr. 5 SächsPolG (Sächsisches Polizeigesetz) im Leipziger Süden durch. Dieser Abschnitt ermöglicht Identitätsfeststellungen ohne konkreten Tatverdacht auf sogenannten „Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität”.
Dies zeigt die Antwort auf eine Kleine Anfrage der im Leipziger Süden direkt gewählten Landtagsabgeordneten Juliane Nagel.
In der Antwort des Sächsischen Innenministers werden im Zeitraum vom 1.10.2013 bis 31.10.2014 drei Zeitfenster genannt, in denen für insgesamt 17 Straßen im Stadtbezirk Süd, die Kompetenzen der Polizei erweitert wurden. Anlass dafür seien polizeiliche Erkenntnisse in den Feldern besonders schwerer Diebstahl, vor allem an und aus Kraftfahrzeugen (Schwerpunkt hier: Navigationsgeräte), sowie besonders schwerer Diebstahl von Kraftfahrzeugen und schließlich Betäubungsmittelkriminalität.
„Wie Straßen in Leipzig zu „Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität“ werden können, ist mir schleierhaft.“, kommentiert Juliane Nagel die Antwort des SMI.
„Das betrifft besonders kleine Nebenstraßen wie die Focke- oder Teichstraße. Dabei verweist das Sächsische Polizeigesetz im engeren Sinn auf Grenzregionen und internationale Verkehrswege.“
Mit dem Wegfall der Personenkontrollen an den Binnengrenzen im Schengenraum, wurde die polizeiliche Überwachung ab Mitte der 1990er Jahre zunehmend in den grenznahen Raum und an so genannte Verkehrsknotenpunkte verlagert, sowie in der Folge auch auf das Landesinnere ausgeweitet. Die damalige PDS-Fraktion im Sächsischen Landtag legte 1999 auch deswegen eine Normenkontrollklage gegen Teile des Sächsischen Polizeigesetzes ein und bekam dabei teilweise Recht.
Demnach müsse solchen Kontrollen ein „vorab zu dokumentierendes polizeibehördliches Konzept zu Grunde liegen“. Dagegen erklärte 1999 z.B. das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern verdachtsunabhängige Kontrollen außerhalb des Grenzbereichs für verfassungswidrig.
„Es ist absolut unverhältnismäßig innerstädtische, fernab von Grenzen liegende Straßen faktisch als gefährliche Orte im Sinne der Grenzkriminalität zu deklarieren. Es ist offensichtlich, dass Straßen von allen benutzt werden können. Praktisch macht sich nun jede/r verdächtig, der die als „Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität“ deklarierten Wege benutzt.“ kritisiert Juliane Nagel.
„Besonders in der Südvorstadt und in Connewitz öffnet diese Erweiterung polizeilicher Kompetenzen der Willkür Tür und Tor. Es zeigt sich immer wieder, dass Menschen die der alternativen und politischen Szene zugeordnet werden, sich verdachtsunabhängigen Polizeikontrollen unterziehen müssen. Hier kommen wohl eher verinnerlichte Stereotype zum Tragen, als der Verdacht des Kfz- oder Navigationsgeräte-Diebstahls. Schließlich sind diese Straßen in Connewitz, auf denen Menschen immer wieder von der Polizei kontrolliert werden, durch die Antwort nicht erfasst. Auch hier befürchte ich Willkür.“ so Juliane Nagel weiter.
Wie fragwürdig solche anlasslosen und verdachtsunabhängigen Kontrollen eigentlich sind, zeigt nicht zuletzt die fehlende Antwort auf die Frage zur Zahl der kontrollierten Personen und der durch diese Praxis aufgeklärten und verhinderten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten: „Der Erfolg präventiver polizeilicher Maßnahmen ist nicht konkret messbar.“ zieht Innenminister Markus Ulbig als Fazit.
>>> pdf-download Antwort auf Kleine Anfrage „Ausweisungen und Einrichtungen von Kontrollstellen und Straßen von erheblicher Bedeutung für die grenzüberschreitende Kriminalität im Stadtbezirk Süd der Stadt Leipzig“
>>> Urteil des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes: „Normenkontrollklage zur verfassungsrechtlichen Prüfung einzelner Vorschriften des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen“ (2003) http://www.justiz.sachsen.de/esaver/internet/2000_043_II/2000_043_II.pdf
>>> Kiezkontrollen wegen Navi-Klau? (leipzig.antifa.de, 21.12.2014)
>>> Polizei außer Kontrolle? Im Interview zur Kontrollpraxis der Polizei (November 2014)