Der 3. Prozesstag gegen die Mörder von Kamal warf viele neue Fragen auf und erzeugte kein gutes Bild der Ermittlungsarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft. Gehört wurden insgesamt elf Zeugen, davon neun Polizeibeamte, und ein rechtsmedizinischer Gutachter.
Die erste Zeugin war Tanja S., die Freundin von Kamal. Sie war wie Gregori T. in jener Oktobernacht mit Kamal zusammen und damit Zeugin des gewalttätigen und tödlichen Angriffes auf ihren Freund gewesen. Tanja S. bestätigte den im Rahmen des 2. Prozesstages rekonstruierten Tathergang weitestgehend. Die zwei Angeklagten hatten sich im Park vor dem Hauptbahnhof zuerst Kamals Freund Gregori genähert und waren dann weiter auf Kamal zugekommen, auf den sie nach einem kleinen Wortwechsel einschlugen bis einer von beiden zustach. Als Neonazis hatte Tanja die beiden Angreifer nicht identifiziert. Wie auch? Befragt nach dem Bild, das sie vom Erscheinungsbild von Nazis habe, antwortete sie „Springerstiefel und Bomberjacke“. Daniel und Marcus dürften in jener Nacht allerdings eher wie moderne autonome Rechte ausgesehen haben: Marcus war von oben bis unten in Thor-Steinar-Klamotten gekleidet und auch Daniel trug eine Thor-Steinar-Jacke.
Spannend wurde es am 3. Verhandlungstag als das Schaulaufen verschiedenster Polizeibeamter begann, die direkt nach der Tat mit den beiden mutmaßlichen Tätern, mit Tatortsicherung und mit den anschließenden Ermittlungen betraut waren. Angefangen bei einem Beamten des Polizeireviers Mitte, der sich vor allem um die medizinische Versorgung bzw. Organisierung von medizinischer Hilfe für den schwer verletzten Kamal kümmerte, waren KriminaltechnikerInnen, Schutzpolizei bis hin zu ermittlungsführenden Kriminalpolizisten vertreten. Spannend waren die verschiedenen Aussagen, die die Festnahme von Daniel K. und Marcus E. und deren Verhalten samt Äußerungen rekonstruierten. Aufgrund von Zeugenaussagen, die auf die Präsenz der mutmaßlichen Täter im Bürgermeister-Müller-Park hinwiesen, konnte die Polizei zuerst den mit einer weißen Jacke bekleideten Daniel K. aufgreifen. Dieser wehrte sich zumindest verbal. Er wäre doch nur hier um sein Handy zu suchen, reagierte er aggressiv auf die Ansprache durch die Polizei. Er wirkte auf den als vierten Zeugen auftretenden Polizisten dabei zwar angetrunken, aber durchaus klar in Bezug auf seine Wahrnehmungs- und Artikulationsfähigkeit und machte keine Anstrengungen der Situation durch Fluchtversuche zu entkommen. Gegenüber den Polizeizeugen, die ihn ins Zentrale Polizeigewahrsam verbrachten, war K., der sich den ProzessbeobachterInnen auch am 4.7. nur mit dem Rücken zeigte, dann doch informationsfreudiger. Inzwischen war ihm bekannt gemacht worden, dass gegen ihn der Tatverdacht der gefährlichen Körperverletzung vorliege, was Daniel K. dazu bewegte, den Beamten gegenüber, die ihn in Richtung Dimitroffstraße fuhren, zwei inhaltlich nah beieinander liegende Erklärungen zu dem Geschehenen zu äußern: 1. habe er „eine Auseinandersetzung mit Ausländern“ gehabt oder 2. habe er „eine Gruppe Ausländer nach einer Auseinandersetzung in die Flucht geschlagen“. K. war also vollkommen klar, auf wen er eingeschlagen hatte und die immer gleiche Leier, dass es doch jede/n hätte treffen können und der erkennbare Migrationshintergrund von Kamal keine Rolle gespielt hätte, wurde widerlegt.
Einer Blutabnahme zum Zweck der Ermittlung des Blutalkohols verweigerte sich K. mit aller Macht. Der noch vor Ort durchgeführte Atemalkoholtest ergab laut Aussagen verschiedener Polizei-Zeugen 1,3 Promille. Ein Wert, der nicht gerade für den „Filmriss“ spricht, den der trink-erprobte K. in seiner Einlassung behauptete.
Trotzdem der Polizeicomputer Daniel K. als „Straftäter rechts“ kannte und trotzdem einige der Polizeizeugen K. auch ohne Kleidung und damit seinen von Nazitätowierungen übersäten Körper gesehen hatten (zu den bekannten Motiven, dem SS-Leitspruch „Meine Ehre heißt Treue“, SS-Runen und Hakenkreuz am Oberkörper, kommt noch die am Bein tätowierte „88“ aka „Heil-Hitler“), antworteten alle, die vom Richter auf die politische Einordnung von K. oder ein denkbares Motiv angesprochen wurden, mit Achselzucken. Einige Polizeizeugen mochten sich nicht mal an die Nazitätowierungen erinnern, die bei K. einfach nur ins Auge stechen und keine Zweifel an seinem politischen Standpunkt aufkommen lassen. Nicht nur eine der Polizei-ZeugInnen antwortete, angesprochen auf die Deutung dieser Tätowierungen, sie wolle(n) doch neutral bleiben. Neutralität heißt also für die Staatsmacht Nazisymbole nicht als solche zu erkennen. Oder kennen die BeamtInnen das Strafgesetzbuch nicht oder sind sogar nicht in der Lage Nazisymbole, wie Hakenkreuze oder SS-Runen, zu erkennen?
Im Gegensatz zu Daniel K. redete Marcus E. nach seiner Festnahme am Morgen des 24.10.2010 nicht viel. Er wurde auf Hinweis von Daniel K. am Bürgermeister-Müller-Denkmal aufgegriffen. In seiner Tasche befand sich ein blutverschmiertes Messer. Auch auf Kleidung und an seinen Händen fanden sich Blutspuren.
Die Polizeizeugen bezeichneten E.s Verhalten als „unkommunikativ bzw. wortkarg“, seinen Blick als „starr“. Er wäre erkennbar stärker als K. alkoholisiert gewesen und zeigte auf die polizeilichen Maßnahmen keine Reaktion. Allein den Atemalkoholtest verweigerte er. Daniel K. soll seinem Freund laut Polizei-Protokollnotiz gut zugeredet haben die polizeilichen Maßnahmen über sich ergehen zu lassen. Auch im Verlauf des 3. Prozesstages wandte sich E. wenige Sekunden mit vertrauensvollem Blick und Wort an K. Die beiden hatten zumindest im Gerichtssaal bis jetzt jeden Blick- oder Gesprächskontakt vermieden.
Nach mehreren Stunden Verhandlung brachte die Vernehmung eines Kriminalhauptmeisters Bewegung ins Geschehen. Der Beamte war u.a. für die Vernehmungen der Tatverdächtigen und die Hausdurchsuchungen verantwortlich gewesen. Nachdem er anfangs erst einmal unterstrich, dass aus Ermittler-Sicht natürlich kein erkennbares Motiv für die Tat vorgelegen hätte, rückte er während der Befragung doch mit einigen Informationen raus, die einen rassistischen Hintergrund der Täter fassbarer machten: die Vergangenheit von Daniel K., der unter anderem in der Kameradschaft Aachener Land aktiv war, Kleidungsstücke wie der Pullover mit der Aufschrift „Kick off antifascism“, wie ihn K. in jener Oktobernacht trug und schließlich persönliche Sachen, die bei den Hausdurchsuchungen bei beiden Tatverdächtigen gefunden wurden. Während die Sache bei Marcus E. klar liegt – Beamte fanden in dessen Erfurter Wohnung vier Kisten mit allerlei NS-Devotionalien – tauchten um die Durchsuchung in K.s Leipziger Wohnung allerhand Fragen auf. Zwar besagte der Durchsuchungsbefehl des Leipziger Amtsgerichtes, dass in den Wohnungen der Tatverdächtigen alles Material sicher gestellt werden solle, das als verfassungsfeindlich und rassistisch einzustufen sei. In Daniel K.s Wohnung beschränkten sich die Beamten, darunter zwei Vertreter der Abteilung Staatsschutz, auf verbotenes Material. So wurden Pins mit Aufschriften des Ku-Klux-Clans und White Power nicht beschlagnahmt, schließlich seien diese ja nicht verboten. Im Kleiderschrank von K. fanden die Beamten angeblich keine Sachen mit rechten Aufschriften. Dies widersprach offensichtlich den Einlassungen, die Daniel K. am zweiten Prozesstag gemacht hatte. Er hatte – angesprochen auf den Pullover mit neonazistischem Aufdruck, den er während der Tat trug – geäußert, dass er nicht über neutrale Kleidung verfüge, da er sich diese nicht leisten könne.
Auf Nachfrage räumte der Polizeizeuge ein, dass sich vielleicht doch Klamotten mit rechten Aufdrucken in der Wohnung befunden haben könnten, mitgenommen wurde allerdings nichts. So oder so blieb und bleibt dieser Sachverhalt undurchsichtig und widersprüchlich.
Die Vertreter der Nebenklage bohrten in Sachen Hausdurchsuchung auch bezüglich der beteiligten Beamten des Staatsschutzes nach: wieso sind diese in den Akten nicht namentlich benannt? Wie lassen sich die Namen ermitteln? Könnte es sein, dass der Vater von Daniel K., selbst Polizeibeamter, unter ihnen war?
Die Namen der an der Hausdurchsuchung beteiligten Staatsschützer durften vom Zeugen nach eigenem Bekunden nicht genannt werden, die Anwesenheit von K.s Vater allerdings wurde klar verneint. Dieser arbeitet allerdings bei der Polizei, wohl möglich sogar bei der Kripo.
Ein weiteres Rätsel entspann sich um eine Reisetasche die K.s Vater wenige Tage nach der Tat, jedoch nach der Hausdurchsuchung bei der Polizei abgab. Die mit rechter Literatur (z.B. das Machwerk „Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus“) und Kleidungsstücken mit rechten Aufdrucken gefüllte Tasche gehöre Marcus E.. Der Weg, den die ominöse Tasche genommen hatte, macht stutzig und wirft wiederum Fragen auf. So arbeiteten die Nebenklage-Vertreter heraus, dass die Tasche in der Wohnung von Daniel K., wo die beiden nun vor Gericht Stehenden am 23.10.2010 ihre „Sauftour“ begannen, nachdem K. seinen Kumpel vom Hauptbahnhof abgeholt hatte, im Rahmen der Hausdurchsuchung nicht gefunden wurde. Ebenso wenig fanden sich dort Spuren des Umtrunks, den K. und E. getätigt hatten, bevor sie von K.s Freund Robert B. an diesem Abend abgeholt wurden. Die Tatsache, dass der Vater die Tasche aus der Wohnung von K.s Oma abgeholt hatte, warf die Frage auf, ob jemand sich vor der polizeilichen Durchsuchung in der Wohnung des Angeklagten zu schaffen gemacht hatte.
Insgesamt erweckte die Polizei am 3. Verhandlungstag den Eindruck im Mordfall Kamal K. nicht gewissenhaft ermittelt zu haben, sich wenig für die neonazistischen Hintergründe der Täter zu interessieren und die kleinen handfesten Anzeichen, die es für einen entsprechenden Hintergrund der Tat gibt, außer Acht gelassen zu haben. Es war der polizeiliche Leiter der Ermittlungen, der vor Gericht alle Aussagen Daniel K.s – auch die offensichtlich Falschen, wie die Geschichte um sein angebliches „Reinrutschen in die rechte Szene“ – vorbetete. Weder in den Kneipen, in denen K. und E. wenige Stunden vor der Tat unterwegs waren, wurde in dieser Richtung nachgefragt (zur Erinnerung: in allen drei Locations war es zu Eskalationen gekommen, die von Daniel K. ausgingen, in den „Alpenmax“ war das Trio erst gar nicht reingekommen), noch wurden die Hausdurchsuchung bei K. gewissenhaft durchgeführt. Außerdem wurde ein Zeuge, der möglicherweise Erkenntnisse über den Tathergang hat, nicht vor Gericht geladen, obwohl seine Daten bekannt sind.
Die intensiven Nachfragen der Nebenklage-Vertreter zu Umgereimtheiten bzw. offensichtlich schlampigen Ermittlungen der Polizei bewog den Verteidiger von Daniel K. entrüstet die Stimme zu erheben: „Nun lassen sie doch den Beamten mal in Ruhe“, so Rechtsanwalt Wittner in Richtung des Berliner Anwälte-Trios. Dabei machen die Nebenklagevertreter genau das was eigentlich von Staatsanwaltschaft und Polizei zu erwarten wäre: intensiv und ernsthaft Spuren nachzugehen.
Zum Ende des 3. Verhandlungstages wurde ein rechtsmedizinischer Gutachter gehört, der sowohl die beiden Angeklagten als auch deren Opfer nach der Tat untersucht hatte.
Er widersprach den Ausführungen des am 2. Verhandlungstag gehörten Unfallchirurgen in Bezug auf die Position, die Kamal hatte, als auf ihn eingestochen wurde. So bekundete der Gutachter, dass Kamal gestanden haben müsse, als das Messer ihn in den Bauch traf. Der Unfallchirurg hatte gemutmaßt, dass Kamal in diesem Moment auf dem Boden gelegen habe. Ob die Erkenntnis des Rechtsmediziners relevant für den Tatvorwurf Totschlag vs. Mord ist, ist ungewiss. Der Nebenklage-Vertreter Sebastian Scharmer stellte ganz richtig in den Raum, dass wer gegen einen anderen Menschen mit einem Messer vorgeht, immer dessen Tod in Kauf nehmen würde.
Die Verhandlung wird am 7.7.2011 ab 9 Uhr im Landgericht Leipzig fortgesetzt. Das Urteil wird mit hoher Wahrscheinlichkeit am darauf folgenden 8.7. gesprochen.