Reise in die Ukraine: Eindrücke aus einem Land im Krieg und die Rolle der ukrainischen Linken

Im April diesen Jahres reiste ein Gruppe aus dem Umfeld des linXXnet-Abgeordneten- und Projektebüros Leipzig in die Ukraine. Bereits im Januar 2023 – ein Jahr nach dem russischen Angriff auf das gesamte Land – waren wir vor Ort um die politische Linke und die Zivilgesellschaft kennenzulernen und etwas über die Erwartungen an die deutsche Linke zu erfahren (Link zum Text bei der RLS).

Die Entscheidung den Weg erneut auf uns zu nehmen, fiel nach der erneuten Amtsübernahme von Donald Trump, deren außenpolitische Auswirkungen weltweit Wellen schlagen. Vorstöße wie der Anspruch auf Grönland, die Entsiedlung des Gaza-Streifens oder ein möglicher Friedensschluss mit Russland über den Kopf der Ukraine hinweg zeugen von einer Radikalisierung des Rechts des Stärkeren in der US-amerikanischen Außenpolitik. Unser Ziel war es herauszufinden, was diese Entwicklungen in einem Land bedeuten, das seit 2022 vom russischen Angriffskrieg geprägt ist, und wie die Menschen vor Ort darauf reagieren.

In der Nacht zum 24. April erlebten wir in Kyjiw den heftigsten Beschuss durch Drohnen und Raketen seit Monaten. Während deutsche Medien titelten, Trump glaube an einen „Deal mit Russland“, starben in dieser Nacht mehrere Menschen, viele wurden verletzt. Wir selbst blieben unversehrt, jedoch nicht ohne Angst. Schon bei unserem Besuch im Winter 2023 hatten wir die Effektivität der ukrainischen Raketenabwehr zu schätzen gelernt.

Diesmal, im Frühling 2025, waren unsere Eindrücke anders. Wir sahen ein Land, das trotz des Krieges Normalität lebt und Menschen, die Außergewöhnliches leisten. Eine lebendige Zivilgesellschaft kompensiert staatliche Untätigkeit, und linke Strukturen engagieren sich selbst unter Kriegsbedingungen für soziale Rechte und progressive Veränderungen. Fast trotzig stellen sich viele Menschen sowohl dem russischen Angriff als auch den Versuchen der USA entgegen, ihr Land geopolitisch zu opfern. Im Gegensatz zu 2023 standen in den Gesprächen weniger Waffenlieferungen oder Deutschlands Rolle im Fokus. Klar wurde jedoch: Der Widerstand gegen eine russische Vorherrschaft ist überwältigend.

Dieser Text versucht Schwerpunkte des Erlebten zu fokussieren.

Linke Politik in der Ukraine

Ein zentraler Schwerpunkt unserer Reise war, wie bereits 2023, der Kontakt zu Akteuren der ukrainischen Linken. Fakt ist: Die Linke ist in der Ukraine, wie in vielen osteuropäischen Ländern, marginalisiert. Nach dem Umbruch 1989/90 ist es nicht gelungen eine glaubhafte reformierte linke Alternative zu etablieren, die sich kritisch mit der staatssozialistischen Vergangenheit – Klientelismus und Repression eingeschlossen – auseinandersetzt und sich im aufgeladenen Spannungsfeld zwischen West- und Ostorientierung klug positioniert.

In Ländern der ehemaligen Sowjetunion wird linke Politik oft mit Stalinismus, Bevormundung, Repression und Klientelismus assoziiert. Auch in der Ukraine wurde die politische relevante linke auch nach dem Umbruch durch die Nachfolgeparteien der sowjetischen KPdSU dominiert. Die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) konnte jedoch in den 1990er-Jahren bis in die 2000er-Jahre relevante Wahlerfolge erzielen. Dennoch verspielte sie durch Korruption und Unzuverlässigkeit das Vertrauen ihrer Wähler*innen. 2014 scheiterte ihr Einzug in die Werchowna Rada, das Parlament der Ukraine, und 2015 wurde ihr sowie zwei kleineren kommunistischen Parteien die Tätigkeit verboten. 1

In Abgrenzung zur „alten“, oft nationalistisch und prorussisch orientierten Parteien gibt es eine vielfältige, wenn auch kleine reformierte Linke. Dazu zählen Sotsialnyi Rukh, die soziale medizinische Bewegung Be Like We Are, das intellektuelle Netzwerk um die Zeitschrift Commons, sowie antiautoritäre Gruppen wie Solidarity Collective oder Direct Action. Ihnen gemein ist, dass sie sich als demokratische, soziale Bewegungen in einer eigenständigen Ukraine verstehen. Infolge der Maidan-Proteste und des russischen Angriffs auf die gesamte Ukraine bejahen die Akteure die europäische Integration. In ein antiimperialistisches Selbstverständnis wird Russland als imperialistische Macht inkludiert.

Sotsialnyi Rukh („Soziale Bewegung“) sieht sich als Vertretung der Arbeiter*innen und fokussiert sich auf die Klassenfrage. Als NGO registriert, ist der Weg zur Parteigründung steinig, wie uns Vitalij Dudin, ein Jurist, der Beschäftigte in Arbeitsgerichtsprozessen vertritt, erzählt. Die Bewegung ist in Kyjiw, Krywyj Rih, Lwiw und Odessa aktiv. Ihr Ziel ist es, weitere Verschlechterungen von Arbeiter*innenrechten zu verhindern und gewerkschaftliche Organisierung zu fördern – eine Herausforderung in Kriegszeiten, in denen Streiks und Demonstrationen weitgehend verboten sind. Sotsialnyi Rukh kooperiert mit Bewegungen wie der Studierenden-Gewerkschaft Direct Action und der medizinischen Bewegung Be Like We Are. Die Bewegung kritisiert das oligarchendominierte politische System der Ukraine und setzt auf Organisierung von unten. Der russische Angriffskrieg wird klar abgelehnt; einige Mitglieder kämpfen freiwillig oder in der ukrainischen Armee, andere wurden eingezogen. Eine langfristige Perspektive sieht Sotsialnyi Rukh im EU-Beitritt, wobei die EU als neoliberales Projekt kritisiert wird. „Schlechter als die Ukraine mit ihrem Primat von Privatisierung und Oligarchentum kann die EU kaum sein“, betont Vitalij Dudin. Als westeuropäische Linke tragen wir Verantwortung, für eine soziale und demokratische EU zu kämpfen, gemeinsam mit unseren ukrainischen Genoss*innen.

Die Studierenden-Gewerkschaft Direct Action (Prjama Dija) besteht seit den 2010er-Jahren und machte während der Maidan-Proteste durch die Besetzung des Bildungsministeriums auf sich aufmerksam. Seit der russischen Invasion 2022 ist sie wieder aktiv. Direct Action organisiert Studierende landesweit, wehrt sich gegen neoliberale Bildungsreformen und dient als Bildungs- und Sozialisierungsort für junge Menschen, die sich links engagieren wollen. Erfolge gibt es: So konnte die Schließung der Krim-Exil-Universität in Kyjiw verhindert werden.

Seit 2020 existiert die medizinische Bewegung Be Like We Are. Laut Mitgründerin Oksana Slobodiana begann alles 2019 mit einem Facebook-Post einer Krankenpflegerin, die die schlechten Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen kritisierte und Zehntausende erreichte. Daraus entstand eine Bewegung, die in zahlreichen Städten aktiv ist und Beschäftigte ermutigt, neue Gewerkschaften zu gründen. Alte Gewerkschaften gelten als korrupt und untätig. Be Like We Are agiert als landesweites Netzwerk und unterstützt lokale Gewerkschaften. Die Facebook-Gruppe hat über 85.000 Mitglieder, die NGO über 700, überwiegend Frauen, was das Geschlechterverhältnis im Pflegebereich widerspiegelt. Das ukrainische Gesundheitssystem ist prekär: Es gibt eine öffentliche Basisversorgung, doch spezialisierte Behandlungen, Medikamente und Operationen müssen oft privat bezahlt werden. Eine flächendeckende Krankenversicherung fehlt. Der staatliche Basiskatalog für medizinische Leistungen ist seit über zehn Jahren unverändert – trotz Inflation, komplexer Bedarfe und Krieg. Die Regierung plant eine Reform nach britischem Vorbild, die jedoch chronisch unterfinanziert ist und durch den Krieg ins Stocken geraten ist. Be Like We Are organisiert Beschäftigte, um ihre Interessen durchzusetzen – keine Selbstverständlichkeit im Krieg. Ein konkreter Erfolg ist die Einführung monatlicher Zulagen für Ärztinnen (20.000 Hrywnja, ca. 400 Euro) und Pflegerinnen (15.000 Hrywnja, ca. 300 Euro), sofern die Personalkosten eines Krankenhauses 85 % nicht überschreiten.

Solidarity Collective ist eine antiautoritäre Struktur, die sich seit dem russischen Angriffskrieg formiert hat, um Linke unterschiedlicher Couleur zu unterstützen, die kämpfen. Diese Arbeit sehen sie als Beitrag im Kampf gegen ein kolonialistisches, imperialistisches System und für eine freie Welt. Das Netzwerk pflegt internationale Kontakte und leistet humanitäre Hilfe für Zivilist*innen in umkämpften Gebieten.

Das jährliche Event Filma der queerfeministischen Szene grenzt sich von konservativem Feminismus und nationalistischen Tendenzen in der Pride-Szene ab. Es verfolgt einen intersektionalen Ansatz, inkludiert Transpersonen und versteht sich als antirassistisch, antikolonial, inklusiv und nicht-hierarchisch. Ira Tantsiura vom Filma-Kollektiv kritisiert die zunehmende Rechtsverschiebung der ukrainischen Gesellschaft, die sie auch mit der durch den Staat geförderten Militarisierung in Verbindung sieht.

>> Die Landschaft linker Akteure in der Ukraine ist klein, aber entschlossen. Sie ist basisorientiert und bewegt sich in bewegungsförmigen Strukturen. Sotsialnyi Rukh bleibt ein zentraler Akteur, der jedoch die Vielfalt linker Themen und Organisierungsformen stärker integrieren muss; progressive Klassenpolitik bedeutet, feministisch, antirassistisch und inklusiv zu sein und neben Theoriearbeit vielfältige Aktionsansätze zu verfolgen. Der Krieg wird von allen Akteuren abgelehnt, ebenso wie ein Leben unter russischem Einfluss oder ein Diktatfrieden. Die Dauer des Krieges zermürbt besonders jene, die in der Armee kämpfen. Die Verteidigung der Ukraine bleibt für die Protagonist*innen ein notwendiges Übel, um frei und demokratisch leben und die Gesellschaft mitgestalten zu können. Nach dem Krieg dürfte dies für Linke nicht einfacher werden.

Soziale Infrastruktur

Die Ukraine leidet unter einer immensen Schuldenlast, die sich seit dem russischen Angriffskrieg massiv verschärft hat. Bereits vor der Annexion der Krim und der Ostukraine 2014 sowie dem großflächigen Angriff auf das gesamte Land 2022 war die Ukraine stark von internationalen Geldgebern wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank abhängig. Die ukrainische Wirtschaft war seit der Unabhängigkeit 1991 instabil, und Geldflüsse in Sozialsysteme oder Infrastruktur blieben aufgrund von Korruption oft intransparent.

Die Armutslage hat sich durch den Krieg erheblich verschlimmert: Vor dem Krieg galten etwa 18 % der Bevölkerung als arm, mittlerweile sind es 24 %. Rund 40 % der Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, und fast 6 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene. Das äußerst prekäre Sozial- und Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps und ist ohne internationale humanitäre Hilfe nicht aufrechterhaltbar. Es gibt keine flächendeckende Krankenversicherung, sondern lediglich eine Basisversorgung, die für Menschen in ländlichen Regionen schwer zugänglich ist. Der Zugang zu qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung hängt oft von privaten Zuzahlungen ab. Besonders im Krieg haben sich Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als unverzichtbare Akteure erwiesen, um vulnerable Gruppen, Binnenvertriebene und Menschen in frontnahen Gebieten zu versorgen.

Durch den von Donald Trump angekündigten Stopp der Auslandshilfe durch die US-Entwicklungshilfebehörde USAID drohen die Leistungen dieser NGOs in der Ukraine einzubrechen. Betroffen wären lebenswichtige Maßnahmen wie die Evakuierung von Menschen aus umkämpften Gebieten, mobile medizinische und psychologische Versorgung sowie HIV-Prävention und -Behandlung. Im Jahr 2023 war die Ukraine der größte Empfänger von USAID-Hilfen mit einem Volumen von 14,4 Milliarden US-Dollar, die hauptsächlich für humanitäre Unterstützung und Wiederaufbau eingesetzt wurden.

Am Beispiel der Organisation Skhid SOS und der Ukrainian Foundation for Public Health wird deutlich, welche Folgen der Wegfall dieser Hilfsgelder hätte. Seit 2022 hat Skhid SOS etwa 12.000 Menschen mit Behinderungen und insgesamt 88.000 Personen aus umkämpften oder besetzten Gebieten evakuiert. Die Organisation finanziert sich ausschließlich durch Spenden und übernimmt Aufgaben, die der Staat nicht leisten kann. Sie unterstützt bei der Suche nach Unterkünften, wandelt leerstehende Gebäude in Zufluchtsorte um, versorgt Vertriebene und dokumentiert Kriegsverbrechen. Skhid SOS kooperiert mit Organisationen in ganz Europa und evakuiert Menschen auch ins Ausland. Zudem gibt es Pilotprojekte, die Kindern aus Krisenregionen den Besuch regulärer Schulen ermöglichen. In Regionen, in denen Schulen keinen Schutzraum bieten, werden Kinder und Jugendliche in der Ukraine online unterrichtet – ein Modell, das sogar auf Kindergärten angewendet wird.

Ein ähnliches Schicksal droht der Ukrainian Foundation for Public Health, die landesweit Frauenhäuser, mobile Teams und Anlaufstellen für medizinische, psychologische und soziale Unterstützung vulnerabler Personen betreibt. Die Stiftung integriert Angebote für Betroffene sexualisierter Gewalt und psychologische Betreuung in die Grundversorgung. Darüber hinaus leistet sie einen wesentlichen Beitrag zur Versorgung von HIV-Infizierten. Die Ukraine weist eine der höchsten HIV-Infektionsraten in Europa auf: Im Jahr 2020 lag die Inzidenz bei 41 pro 100.000 Einwohner*innen, in Deutschland bei 3,1. Dank internationaler Unterstützung konnten Prävention und Versorgung bis zum Beginn des Krieges verbessert werden. Seitdem hat sich die Lage jedoch drastisch verschlechtert, und mit dem Wegfall humanitärer Hilfsprogramme droht eine weitere Verschärfung der Krise.

Bereits jetzt ist der Wiederaufbau der Ukraine im Gange, und Milliarden sind bereits in die Wiedererrichtung von Wohnhäusern, Schulen, Infrastruktur sowie Energie- und Wasserversorgung geflossen. Die Herausforderungen bleiben jedoch enorm. Nur in begrenztem Umfang wird die ukrainische Gesellschaft in den Wiederaufbau einbezogen. Wir lernen Yanna kennen, die mit der Methode des Forumtheaters2 arbeitet und versucht, marginalisierten Gruppen eine Stimme zu geben. Eine ihrer Interventionen zielte darauf ab, dass beim Wiederaufbau von Wohnraum für Menschen mit Behinderungen selbstbestimmtes Wohnen in eigenen Wohnungen statt in Heimen berücksichtigt wird.

>> Linke Politik muss die ungleichen Lebensverhältnisse in der Ukraine angehen und die wirtschaftliche Zerstörung durch den Krieg sowie die wachsende soziale Ungleichheit thematisieren. Die Abhängigkeit von internationalen Hilfen macht das Land verwundbar, Kredite und Zinsen führen zu einer massiven Schuldenlast, die die Bevölkerung trägt und neoliberale Umstrukturierungen forciert. Ein Schuldenschnitt ist ebenso notwendig wie die Verhinderung, dass die Unterstützung der Ukraine mit dem Ausverkauf ihrer Ressourcen verknüpft wird. Ein EU-Beitritt birgt Risiken, kann aber die Lebensbedingungen verbessern und demokratische Rechte stärken. Dafür braucht es eine stärkere linke Bewegung, die auf Sozialsysteme, Gesundheitsversorgung, Arbeiter*innenrechte und den Wiederaufbau Einfluss nimmt.

Erinnerungskultur, extreme Rechte und Militär

Die Erinnerungskultur ist in der Ukraine ein umkämpftes Thema, das sowohl die Aufarbeitung des Nationalsozialismus als auch des Stalinismus betrifft. Dies ist entscheidend, um die Marginalisierung der Linken und die Formierung der politischen Rechten zu verstehen.

Am 8. Mai 2025 wurde in der Ukraine der 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus begangen, seit 2024 bewusst nicht mehr am 9. Mai, um sich von russischen Gedenkfeiern abzugrenzen. Dies ist eine direkte Folge des russischen Angriffskrieges. Auch hierzulande muss der Blick geschärft werden: In der Roten Armee kämpften ab 1941 Menschen aus allen 16 sowjetischen Teilrepubliken, aus Russland genau wie aus der Ukraine, Lettland, Litauen, Kasachstan etc gegen die deutsche Wehrmacht. Die Ukraine erlitt überproportional viele Opfer sowohl militärisch als auch zivil. Mahnend stehen Massaker wie in Babyn Yar, wo deutsche Sonderkommandos der SS im September 1941 fast 34.000 Jüdinnen und Juden in nur zwei Tagen erschossen und in der Schlucht bei (heute in) Kyjiw verscharrten, zum Teil bei lebendigem Leibe. Diese Gräueltaten der Nationalsozialisten blieben lange Zeit auch in der deutschen Forschung und Aufarbeitung ein blinder Fleck. In der Sowjetunion wurden Aufarbeitung und Gedenken zu erkämpfen versucht, in den Vordergrund des staatlichen Erinnerns wurden die sowjetischen Opfer gerückt. Dies verstellte auch den Blick auf die an dieser Stelle ermordeten Jüd*innen auch Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen und neben Kommunist*innen auch ukrainische Nationalist*innen. Erst nach der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 wurde der Raum für ein umfassendes Gedenken und Aufarbeiten auch durch die Öffnung von Archiven ermöglicht. Inzwischen gibt es in Babyn yar zahlreiche Einzeldenkmale, die an die verschiedenen Opfergruppen erinnern, geplant ist durch das Babyn Jar Holocaust Memorial Center zudem ein größeres Gedenk- und Forschungszentrum, das aufgrund seiner Beteiligung vieler Oligarchen, u.a. auch aus Russland, aber stark umstritten ist. Lokale Gedenkinitiativen kritisieren in diesem Zusammenhang zudem die drohende „Dysneylandisierung“ des Gedenkens.

Ein schwieriges Thema ist die Kollaboration der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), dem militärischen Arm der ultranationalistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B) unter Stepan Bandera, mit dem nationalsozialistischen Regime. Die OUN-B verfolgte ein antikommunistisches, ultranationalistisches und teilweise antisemitisches Programm und war an ethnischen Säuberungen und Pogromen in Polen und der Ukraine beteiligt. Nachdem die Nationalsozialisten das Ziel eines unabhängigen ukrainischen Staates ablehnten, wandte sich die OUN-B 1943 gegen die Wehrmacht. Bandera selbst war ab 1941 im KZ Sachsenhausen inhaftiert.

Das Dekommunisierungsgesetz von 2015 stärkte die Rolle von OUN und UPA, indem es sie zu Kämpfern für die Unabhängigkeit erklärte und ihren Mitgliedern Veteranenstatus verlieh. Es setzt zudem die Verbrechen von Kommunismus und Nationalsozialismus gleich und verbietet entsprechende Symbolik im öffentlichen Raum. Sowjetische Denkmäler wurden entfernt, Straßen nach Bandera benannt. Laut dem Historiker Viacheslav Lichachev ist diese geschichtspolitische Debatte im Krieg auf Eis gelegt, doch die Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus befeuert anti-linke Narrative.

Russland nutzt dies, indem es den Krieg als Kampf gegen „Faschismus“ darstellt und die EU als Unterstützerin des Faschismus diffamiert. Die russische Umdeutung des Holocaust und die Heroisierung der sowjetischen Geschichte – unter Ausblendung stalinistischer Verbrechen wie des Holodomor3 – dienen einer imperialen Politik gegen „den Westen“.

Die organisierte extreme Rechte in der Ukraine bezieht sich positiv auf UPA und Bandera, bleibt jedoch seit 2019, insbesondere seit 2022, parlamentarisch geschwächt und quasi inexistent (bei der Parlamentswahl 2019 errang die extrem rechte Swoboda im Bündnis mit u.a. Rechter Sektor und National Corps nur 2,4% und ist mit nur einem Direktmandat in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, vertreten). In einer Gesellschaft, die den Krieg gegen Russland ablehnt und sich europäisch orientiert, hat sie wenig Rückhalt. Einzelne Einheiten wie die von Andriy Biletsky geführte 3. Sturmbrigade, der ehemals das Asow-Regiment und die extrem rechte Partei National Corps leitete, schöpfen Kapital aus militärischem Heldentum. Neonazis waren auch an der Räumung des Höhlenklosters von Vertreter*innen des Moskauer Patriarchats beteiligt, und die einzige Abgeordnete der faschistischen Partei Swoboda brachte ein Gesetz zum Verbot dieses Kirchenzweigs ein.

Die in Deutschland viel diskutierte Asow-Brigade dagegen gilt politischen Beobachter*innen inzwischen nicht mehr als das, was sie war. 2014 als Freiwilligenbataillon gegründet, geriet sie wegen extrem rechter Mitglieder und Menschenrechtsverbrechen in die Kritik. Die USA hoben erst im letzten Jahr das 2015 Verbot auf, Asow mit Waffen zu beliefern. Die Brigade wurde schon 2014 in die Nationalgarde der Ukraine eingegliedert und in ein Regiment umgewandelt. In den Kämpfen um Mariupol im Jahr 2022 machte sich Asow wegen ihres erbitterten Kampf gegen die russischen Angriffe einen Namen und wird in der Ukraine als Symbol des Widerstands glorifiziert. Seit ihrer Eingliederung in die offizielle Armee und nach dem Weggang extrem rechte Protagonisten, habe eine Entideologisierung stattgefunden. Abzugrenzen sei die Asow-Bewegung als loses Netzwerk aus militärischen, politischen, zivilen und paramilitärischen Gruppen.

Die extreme Rechte ist mit ihren Organisationen gesellschaftlich wenig präsent, die Zahl von rechten Angriffen hat seit dem russischen Überfall 2022 abgenommen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Neonazis sich der Armee angeschlossen haben. Seit dem letzten Jahr haben Aktivitäten von Mitgliedern extrem rechter Jugendorganisationen zugenommen, wie in Deutschland richten sie sich vor allem gegen Aktivitäten der LGBTIQ-Szene.

Eine Gefahr liegt im Primat des Militärischen, das Maskulinismus und Kampfesgeist verherrlicht – ein Phänomen, das nicht auf die Ukraine beschränkt ist, sondern auch in Russland und anderen Ländern zu beobachten ist. Die Aufrüstungslogik in Reaktion auf den Krieg lässt ähnliche Entwicklungen für Europa erwarten.

>> Linke in Deutschland müssen aufhören, die Ukraine als Hort des Faschismus zu sehen. Dies ist nicht nur falsch, sondern nährt russische Narrative. Die staatliche Erinnerungspolitik ist problematisch und verhindert eine differenzierte Aufarbeitung der Sowjetzeit und der Rolle ukrainischer Nationalisten im Nationalsozialismus. Darunter leidet die reformierte Linke. Im Krieg ist eine Korrektur dieser Politik unwahrscheinlich; heroisierende Narrative des ukrainischen Unabhängigkeitskampfes werden gestärkt und mit dem aktuellen Widerstand gegen Russland verknüpft. Im Krieg wachsen nationale Identität, Fokus aufs Militär und auch Blindstellen in Bezug auf extrem rechte, autoritäre Einflüsse. Doch es gibt zivilgesellschaftliche Akteure, die das beobachten und gegenhalten. Nach dem Krieg wird eine differenzierte Aufarbeitung entscheidend sein, bei der progressive Linke und Wissenschaftler*innen an Einfluss gewinnen sollten.

Politische Konklusionen für außenpolitische Positionen der Linken

Unsere Reise in die Ukraine bettet sich auch in eine nicht beendete Debatte der Linken über die Unterstützung der Ukraine ein. Die Partei Die Linke bekennt sich mittels Parteitagsbeschlüssen klar zum Völkerrecht und damit gegen den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands und für das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine nach Artikel 51 der UN-Charta. Eine Unterstützung des Landes mit Waffen wird dagegen von der Partei klar abgelehnt. Diese Position erscheint angesichts der wieder begonnenen massiven russischen Angriffe auf die Ukraine schwer haltbar . Ohne eine effektive Raketenabwehr wären in der Ukraine schon viel mehr Zivilist*innen getötet worden. Ohne die Unterstützung mit Waffen würden auch viele Genossinnen und Genossen an der Frontlinie ohnmächtig sein.

Die Linke positionierte sich klar für wirksame Sanktionen gegen Russland und fordert uneingeschränkt die humanitäre Unterstützung der Ukraine sowie als einzige Partei in Deutschland einen Schuldenschnitt für das ökonomisch geschwächte Land. Auch der Aggressor und dessen imperiale Bestrebungen werden klar benannt und die Forderung nach diplomatischen Initiativen zur Beendigung des Krieges in den Vordergrund gestellt.

Eine eklatante Leerstelle bleibt die Frage, wie sich das Land effektiv wehren und damit sein völkerrechtliches Recht wahrnehmen kann. Diplomatie zur Kriegsbeendigung hängt unmittelbar vom militärischen Kräfteverhältnis ab: Eine wehrlose Ukraine hätte in Verhandlungen keine Verhandlungsmasse.

Die Ukraine wird derzeit von westlichen Staaten unterstützt. Auch die zivilgesellschaftlichen Solidaritätsbewegungen kommen zumeist aus dem liberalen Spektrum. Das erschwert es Linken, eine klare Position zu beziehen. Eine glaubwürdige Linke muss die geopolitischen Strategien des Westens, insbesondere der NATO, kritisch hinterfragen, ohne die Unterstützung der Ukraine zu untergraben. Gerade deswegen braucht es eine alternative linke Idee zur Sicherung von Völkerrecht und Frieden. Richtschnur müssen dabei klar die Wahrung von Menschenrechten und das Gewaltverbot sein. Bestehende internationale Gremien wie die UN sind dysfunktional und wenig wirksam. Deshalb ist es notwendig, die Rolle der Europäischen Union neu zu denken und sie im Kontext der Konfrontation zwischen autokratischen Machtblöcken im Westen und Osten von links zu gestalten. Jan Schlemermeyer schrieb dazu schon 2022: „Mittelfristiges Ziel wäre eine EU, die sich unabhängig von der Blockkonfrontation zwischen den USA auf der einen und Russland/China auf der anderen Seite macht. Das ist nicht nur die Forderung linker Parteien in Osteuropa. Es wäre auch kommunikativ eine völlig andere Ausgangslage. Dann könnte Die Linke tatsächlich eine dritte Position aufmachen und sich als linker Flügel des europäischen Projektes begreifen.“

Viele osteuropäische Staaten – und dort auch progressive linke Kräfte – drängen in Richtung der EU. Das führt zu neuen Spannungen mit Russland, etwa durch russische Desinformationskampagnen und Einflussversuche gegen europafreundliche Parteien und Politiker*innen bei Wahlen in Ländern wie Rumänien, Georgien oder Moldau. Auch westliche Akteure versuchen, ökonomische Abhängigkeiten zu schaffen und ideell, bspw. durch NGO-Finanzierung, Einfluss auf die Gesellschaften zu nehmen.

Das Streben nach einem Leben in Freiheit, demokratischen und sozial gerechten Verhältnissen ist allerdings ein wichtiger Anknüpfungspunkt für eine emanzipatorische Linke. Dabei könnte ein Ziel sein, positive Elemente osteuropäischer Erfahrungen im Staatssozialismus, wie soziale Absicherung oder Kollektivwirtschaft, mit demokratischen und freiheitlichen Perspektiven zu verbinden, um eine neue, emanzipatorische Gesellschaftsvision zu entwickeln. Vielleicht lässt sich daraus etwas Neues erschaffen.

Gerade deshalb plädieren wir für eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit linken Akteuren in der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern, um deren Erfahrungen und Bedürfnisse als Grundlage für ein solidarisches und emanzipatorisches Handeln zu nutzen.

 

Fußnoten:

1 Seit 2015 gilt in der Ukraine das Dekommunisierungsgesetz, das die Verbrechen der Nationalsozialisten mit denen der Sowjetunion gleichsetzt und die Verwendung „kommunistischer“ Symbolik in der Öffentlichkeit unter Strafe stellt. Dies bildet die Grundlage für das Verbot der KPU u.a.

2 Das Forumtheater („Theater der Unterdrückten“) ist eine Methode des Empowerments, die eine benachteiligte Gruppe dazu befähigen soll, die eigenen Interessen und Ziele zu formulieren und für diese einzustehen.

3„Tötung durch Hunger“, die Zwangskollektivierung der 1920er/30er-Jahre unter Stalin, die mit Hungersnöten und Repressionen Millionen Todesopfer, vor allem Ukrainer*innen, forderte

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