Der Schock saß tief an diesem Abend der Bundestagswahl: Die AfD war im Osten Deutschlands mit 21,5 % der Stimmen zweitstärkste Kraft hinter der CDU (26,5 %) geworden, die LINKE rangiert mit 16,5 % nur noch auf Platz 3. Besonders treten die Ergebnisse im Freistaat Sachsen hervor. Hier hat die autoritäre nationalradikale Partei im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 mehr als 20 % gewinnen können und wurde mit 27 % zur stärksten Kraft im Lande.
Das Wundenlecken insbesondere bei der seit 1991 in Sachsen regierenden CDU hält an. Nicht ganz einen Monat nach der Wahlschlapppe – die CDU hat fast 16 % ihres Stimmanteils verloren – werden bisher allein personelle Konsequenzen gezogen: So verabschiedete sich die Kultusministerin, die für LehrerInnenmangel, Unterrichtsausfall und Stagnation im Bildungswesen steht, und schließlich kündigte auch der Ministerpräsident Stanislaw Tillich seinen Rücktritt an. Eine ehrliche Analyse dessen, was in Sachsen und im gesamten Osten Deutschlands geschehen ist, was den Durchmarsch der AfD erklären könnte, steht insbesondere bei den Konservativen aus.
Blicken wir zurück ins Jahr 2014. In Sachsen gelang der AfD noch vor dem Aufkommen von Pegida und dem sprunghaften Anwachsen der Zahl der Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, mit 9,7 % der Stimmen der erste Einzug in einen Landtag. Dies war schon seinerzeit beachtlich für eine junge und derart zerrissene Partei, wie sie die AfD bereits damals war.
Inzwischen geht die AfD wie ein „Staubsauger“ durch die verschiedenen Milieus und konnte bekanntermaßen vor allem bei der unteren Mittelschicht und den Erwerbslosen punkten. Auffällig ist auch der Stimmüberhang bei den Männern (bundesweit 16 % Wahlanteil bei Männer und 9 % bei Frauen).
Das große Faktorenpuzzle: Wie viele Teile hat es eigentlich?
Für den Erfolg der AfD gibt es verschiedene Erklärungsansätze, die hier idealtypisch aufgerissen werden sollen:
– ökonomischer Abstieg, bzw. die Angst davor
– im Osten Deutschlands: der Hintergrund der Wendeerfahrung
– schwindende Integrationsfähigkeit des parlamentarischen Systems und der etablierten Parteien
– freigelegte rassistische, nationalistische und autoritäre Einstellungen, die seit Jahren durch sozialwissenschaftliche Studien erwiesen sind
– Backlash der Folgen der Modernisierung
Ganz sicher spielen all diese immer wieder als Erklärungsansätze bemühten Faktoren eine Rolle für den Durchmarsch der Alternative für Deutschland. Blickt man nun auf Sachsen, finden sich hier bestimmte begünstigende Faktoren, die sich kaum von den anderen Ost-Bundesländern unterscheiden: Die strukturelle soziale Benachteiligung durch niedrigere Löhne und Renten beispielsweise, die Überrepräsentation westdeutscher Eliten, und das Gefühl der Diffamierung der eigenen DDR-Biografien. Es lassen sich aber auch Faktoren identifizieren, die sachsenspezifisch sind: Seit 27 Jahren regiert in Sachsen die CDU. Sie hat – insbesondere unter Kurt Biedenkopf – das Land in Gutsherrenmanier regiert, hat einen Filz produziert, der sich wie ein Schleier übers Land legt und Erfolg und Aufstieg nur in Verbindung mit Vasallentreue gewährt. Gleichsam wurden kritische, zivilgesellschaftliche und linke Bewegungen marginalisiert bis kriminalisiert. „König Kurt“ bescheinigte den Sachsen im Jahr 2015, auf dem Höhepunkt der rassistischen Ausbrüche im Freistaat, dass sie größtenteils „immun gegen Rechtsextremismus“ wären. Dass dies eine fatale Fehleinschätzung ist, zeigen nicht nur Organisierung und Aktivitäten neonazistischer Gruppen aus den 1990er und von Anfang der 2000er Jahren, wie die Skinheads Sächsische Schweiz oder Sturm 34, sondern auch die Gruppe Freital oder die Freie Kameradschaft Dresden, die 2015, just zur Zeit der Äußerung Biedenkopfs, gemeinsam mit rassistischen Bürgerinitiativen Terror gegen Geflüchtete und Linke ausübten. Biedenkopfs Statement zeigt zu gut die politische Kultur, die die CDU in Sachsen seit jeher pflegt: Probleme werden ignoriert und geleugnet. Jene Menschen, die Naziprobleme benennen, werden diffamiert.
Etwas plausibler als Biedenkopfs Immunitätsbehauptung dürfte wohl sein, dass ein großer Teil der Sachsen vor allem im ländlichen Raum immun gegen Veränderungen ist oder sich gern machen würde. Die, die aus ihrem Leben etwas machen wollen, darunter auch die, die Vielfalt und Pluralismus für positive Werte halten, verließen die ländlichen Räume über die Jahre. Dies trieb nicht nur den Niedergang der regionalen Wirtschaft und der öffentlichen Infrastruktur voran, sondern erwies sich vielerorts auch als Gift für einen – gerade im Osten wohl immer noch herzustellenden – demokratischen Grundkonsens.
Als Pegida im Herbst 2014 auf der Bildfläche erschien und die Teilnehmer*innen-Zahl bei den Aufmärschen beängstigende Ausmaße annahm, verweigerte sich vor allem die CDU der kritischen Auseinandersetzung mit deren demokratie- und menschenfeindlichen Slogans. Im Gegenteil: Der dramatischen Diskursverschiebung nach rechts leistete in Sachsen vor allem die konservative Staatspartei mit ihrer Beliebigkeit Vorschub. In den gesellschaftlichen Rechtsruck platzierte Ministerpräsident Tillich Aussagen wie: „Der Islam gehört nicht zu Sachsen“. Der Sächsische Innenminister Ulbig flankierte mit „Das Boot ist voll“-Redeschleifen.
Niemals egal: Die Ökonomischen Verhältnisse
Vor allem durch die Einführung des Mindestlohns stabilisieren sich die Lebensverhältnisse in Sachsen auf niedrigem Niveau, gleichsam liegt in Sachsen mit dem Erzgebirgskreis bspw. die Region mit dem bundesweit niedrigsten Bruttoeinkommen. 100.000 Kinder in Sachsen leben in Armut und nicht zuletzt firmiert Sachsen weiter als Niedriglohn-Land.
Andererseits wurde schon in der Auseinandersetzung mit den TeilnehmerInnen der Pegida-Aufmärsche deutlich, dass wir es hier nicht mit dem klassischen sozial deklassierten Klientel zu tun haben, das auch in Sachsen zu großen Teilen zum AfD-Wahlerfolg beitrug. Vielmehr dominiert(e) die Wendegeneration, Männer mit Berufsabschluss und zumeist nicht-prekären Anstellungsverhältnissen. Hier tritt das Motiv der ökonomischen Abstiegsängste, der kulturellen Entfremdung und der Abwehr von Veränderungen in den Fokus. „Fremde“ – sowohl die hasserfüllt benannten „links-grün-versifften Weltverbesserer“ als auch MigrantInnen werden als Bedrohung für den eigenen status quo und für die traditionellen Lebensumstände betrachtet. So wie es der etablierten Politik immer weniger gelang, eine kommunikative Brücke zu eben jenen zu schlagen, gelang und gelingt dies der AfD mit ihren ultra-konservativen, pointierten und unreflektierten alternativen Wahrheiten. Die CDU mit ihrer rechtsoffenen Flanke ist in diesem Spiel zur unglaubwürdigen Alternative geworden. Oder kurz: Man(n) wählt das Original.
Fakt ist aber auch: Die AfD ist im Gegensatz zur LINKEN und (zumindest proklamiertermaßen) der SPD keine Partei, die soziale Interessenlagen vertritt. Ihr gelingt es, eine sozial heterogene Wählerbasis anzusprechen. Statt den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ins Zentrum zu rücken, verkleistert die AfD jene mit einem alternativen „Glücksversprechen“, der Zugehörigkeit zur Nation, zum „Volk“. Eine SPD, die Teil des neoliberalen Durchmarschs ist und DIE LINKE, der es über 27 Jahre nicht spürbar gelungen ist, handfeste soziale Verbesserungen durchzusetzen und politische Entscheidungen gegen Wirtschaftsinteressen zu stärken, müssen es hier schwer haben, dagegen zu halten. Der AfD-Erfolg kann in diesem Sinne auch als Spätfolge der Agenda-Politik von SPD und Grünen gewertet werden – und dem LINKEN Unvermögen, dem etwas Wirksames entgegenzusetzen.
Die innerlinken Debatten um die Konsequenzen aus den Wahlergebnissen laufen auf Hochtouren und insbesondere in der Linkspartei wird mit harten Bandagen gerungen. So erschreckend der Stimmverlust der LINKEN in ganz Ostdeutschland ist, bietet sich hier auch eine Chance, die Partei als sozialistische Kraft in der gesamten Bundesrepublik neu zu denken und zu gestalten. Nichts desto trotz wird es Anforderung und Anspruch zugleich sein, Menschen zurückzugewinnen und neue WählerInnen, die es zahlreich gab, zu binden und beide heterogenen Gruppen von einer antikapitalistischen, solidarischen, weltoffenen Politik zu überzeugen, um beispielsweise auch Geflüchtete als MitstreiterInnen – und nicht Konkurrentinnen – im Kampf um bessere Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu sehen.
geschrieben für die Sozialistische Zeitung November 2017