Im großen Interview mit dem Familienportal Tüpfelhausen geht es um Ziele und Herausforderungen der kommunalpolitischen Arbeit der LINKEN in Leipzig
Guten Tag Frau Nagel, guten Tag Frau Witte, wir begrüßen Sie beide recht herzlich hier im Familienzentrum von Tüpfelhausen zum Interview im Rahmen unseres Wahlspecials „Stadtratswahl 2014“. Sie treten jeweils auf dem Listenplatz 1 für Die Linke in ihrem Wahlkreis an. Sie Frau Nagel im Wahlkreis 4, Sie Frau Witte im WK 7.
Eingangs die erste Frage, was bedeutet Leipzig für Sie?
Pia Witte: Leipzig ist eine wunderschöne Stadt zum Leben. Ich bin vor über 20 Jahren hergezogen. Es war Liebe auf den ersten Blick, mit dem Gefühl: Hier bin ich, hier bleibe ich. Es war spannend, die letzten Jahre mit erleben zu dürfen.
Allerdings sind wir in Leipzig jetzt an einem Punkt angekommen, der besorgniserregend ist. Die sozialen Umstände dürfen nicht so werden wie in vielen großen Städten im Westen: Dass die Leute, die nicht viel Geld haben, ihre Wohnung nur außerhalb am Stadtrand finden. Hier in Leipzig läuft die Gentrifizierung in vollem Gange. Damit Leipzig lebenswert bleibt, muss es auch lebenswert für alle bleiben, auch für Menschen mit kleinem Geldbeutel.
Jule Nagel: Ich bin in Leipzig geboren, ich hatte nie das Bedürfnis, wegzuziehen. Ich bin stark mit Leipzig verknüpft, habe mal in Lindenau gewohnt, große Teile meines Lebens im Süden. Im Moment wohne ich innenstadtnah, auch hier gibt es noch Orte, die sich bewegen und verändern. Wir müssen gucken, dass das soziale Gleichgewicht in Leipzig erhalten bleibt bzw. Teilhabe für alle gesichert wird. Kommunalpolitik ist das schwächste Glied in der föderalen Politik. Hier sind die großen Weichen anders zu stellen.
Beschreiben Sie sich für unsere Leserinnen und Leser. Wer ist der Mensch Jule Nagel, wer ist der Mensch Pia Witte?
Jule Nagel: Ich bin entschlossen, ich ecke auch mal an. Bei den Themen Menschenrechte und Asyl bin ich sehr engagiert, wenn die Würde von Menschen infrage gestellt wird. Ich arbeite mit vielen Menschen und Initiativen zusammen, um Themen voranzubringen; nicht als Einzelkämpferin, sondern im Kollektiv.
Pia Witte: Ich war schon immer gegen den Strom gebürstet, unkonventionell, nachdenklich. Leben bedeutet für mich eine unheimliche Gier nach Leben. Ich will alles wissen, wenn ich erst mal ein Thema für mich entdeckt habe. Ich bin eckig und kantig, ja auch mal öfter an bei den eigenen Genossen. Ich lasse mich nicht verbiegen.
Welches Projekt oder Vorhaben ist Ihnen für Ihren Wahlkreis besonders wichtig?
Pia Witte: Die Mieten im Wahlkreis müssen bezahlbar bleiben. Wir haben in den letzten Monaten eine Entwicklung zu verzeichnen, so ähnlich wie in Schleussig. Es muss uns gelingen, hier im Stadtteil, der bunt gemischt ist, bezahlbare Mieten zu erhalten. Das ist für diesen Wahlkreis erst mal das wichtigste. In Böhlitz-Ehrenberg muss die Schule dringend saniert werden. Aber das wichtigste ist, hier einen gut durchmischten sozialen Stadtteil zu erhalten, der lebenswert für alle ist.
Jule Nagel: Der Süden ist wohnungsmarkttechnisch schon fast zu. Das ist ja die typische Entwicklung, dass die Menschen vom Stadtinneren zum Stadtrand wandern müssen. In meinem Wahlkreis ist es wichtig, dass insbesondere aus der Südvorstadt niemand verdrängt wird; das die Mieten sozial zugänglich bleiben.
Im Süden ist das Kita-Problem zudem ein Riesenproblem. Es gibt Eltern im Süden, die ihre Kinder nach Grünau in die Kita bringen müssen. Da sind wir jetzt hoffentlich gut in der Spur. Es sollen in diesem Jahr mehr als 2000 Kita-Plätze gebaut werden. Ich hoffe, dass bis 2016 realistisch der Druck nachlässt.
Wie beurteilen Sie allgemein die finanzielle Lage der Stadt Leipzig?
Pia Witte: Sollen wir jetzt höflich oder ehrlich sein? Es hängt von einem Faktor ab, der gestern erst in der Zeitung stand. Wenn wir den Prozess um die Spekulationen der KWL verlieren, sieht es ganz schlecht für Leipzig aus. Es läuft auch irgendwann der Solidarpakt aus, von dem wir partizipieren. Bis dahin soll es nach Ansicht der Stadt Leipzig geschafft werden, diesen Ausfall über die Gewerbesteuer zu kompensieren. Da gehe ich nicht so richtig mit. Die Gewerbeansiedlungspolitik der Stadt Leipzig ist nicht existent. Nach meiner Auffassung müsste es viel mehr Förderungen für kleinteilige Gewerbebetriebe geben, die denn auch hier fest angesiedelt sind und dann auch Gewerbesteuerzahler bleiben. Bei großen Firmen besteht das Risiko, dass die abwandern und dann ein Riesenloch in der Stadtkasse entsteht.
Wir müssen klar die Einnahmen steigern. Und dabei die Frage nicht aus den Augen verlieren, wie verteilen wir die knappen Ressourcen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Leipzig hat mit die geringsten Sätze aller sächsischen Städte bei der Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Empfänger und die zweitgrößten städtischen Ausgaben für Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Und das hauptsächlich für die Hochkultur. Da sieht man, wie die Prioritäten gesetzt werden. Ich will der Kultur um Gottes willen nicht den Hahn zu drehen, ich bin sehr für Kultur, aber man muss auch da vielleicht mal eine ehrliche Bestandsaufnahme machen.
Jule Nagel: Ich kann das jetzt hier nur sekundieren. Die Situation ist schon dramatisch. Die Linke fordert auf Bundesebene schon lange eine Gemeindefinanzreform, damit die Kommunen eine faire Finanzausstattung erhalten. Die Kommunen sind das schwächste Glied in der förderalen Kette. Was mir in meinem Politikbereich auffällt ist, dass sich das Land aus der Verantwortung zieht. Das betrifft die Kita-Finanzierung, die Jugendhilfefinanzierung, die Unterbringung und Betreuung von Asylsuchenden. Da muss das Land eigentlich aufsatteln, denn seit Jahren werden die Zuweisungen nicht erhöht, sie stagnieren bei steigenden Kosten.
In Leipzig wird in den letzten Jahren viel Wohnraum gebaut wie saniert, nach Ansicht vieler Bürgerinnen und Bürger sind dies aber nur noch „Luxussanierungen“. Viele Jahre sprach die Republik von der Leipziger Freiheit. Ist dies noch der Fall und sind die Sanierungen derzeit ausgewogen?
Pia Witte: Ich teile die Auffassung, dass vieles in die Luxussanierung gegangen ist. Das beste Beispiel ist hier im Wahlkreis das Brunnenviertel. Als Mitglied des Aufsichtsrats der LWB war ich froh, dass die Sanierung angegangen wurde, weil die LWB als vorherige Eigentümerin nicht die Mittel dafür hatte, dieses zu sanieren. Aber auf der anderen Seite sehe ich das sehr kritisch, weil das hier die Preise sehr nach oben treibt. Das Brunnenviertel ist nun für den meisten Leute in Leipzig unbezahlbar. Es ist hier eine blauäugige Wohnungspolitik betrieben worden. Es gibt eine städtische Vorlage, dass einmal im Jahr durch die Stadt vorgelegt werden muss, ob die Kosten der Unterkunft noch angemessen sind. Darin stand, es ist alles ok. Diese Vorlage bekommt der ganze Stadtrat. Nach einer Woche gab es eine so genannte weiße Vorlage, die bekommen nur die Leute in den entsprechenden Ausschüssen. Diese Vorlage war ein Ausdruck der Hilflosigkeit: Wir wissen nicht mehr, wie wir es machen sollen. Die einzige Aktion in dieser Vorlage, um den Wohnraums zu sichern, war, dass die Anbieter und die großen Genossenschaften im Markt gebeten werden sollten, günstigen Wohnraum anzubieten. Es hat bisher keine steuernde Wohnungspolitik in Leipzig stattgefunden. Jetzt sind wir an einem Scheitelpunkt, an dem wir etwas machen müssen.
Es wurde unlängst eine wohnungspolitische Stunde im Stadtrat beantragt, dass diese Situation auch mal diskutiert wird. Wir haben jetzt die LWB dazu gebracht, dass man sagen kann, sie kann jetzt sicheres finanzielles Fahrwasser erreichen. Sie stand ja schon über dem finanziellen Abgrund. Kaum hatte die LWB aber jetzt eine schwarze Null geschrieben, kam die Stadt und wollte wissen, wann die LWB in das Stadtsäckel Gewinne ausschütten kann. Da hat die Geschäftsführung gesagt „gar nicht“, denn wir haben soviel Verlust in den letzten 15 Jahren gemacht, den können wir noch über Jahre abschreiben. Und was passiert? Man versucht die LWB dadurch abzuschöpfen, dass man die Zinsen für die Bürgschaft erhöht. Das ist die falsche Politik. Man sollte die LWB viel mehr unterstützen, damit sie günstigen Wohnraum für schwache Einkommen schaffen kann. Man sollte einen verpflichtenden Anteil bei Investitionen für Sozialwohnungen festschreiben.
Jule Nagel: Vor rund zwei Jahren ist ja die Diskussion über die Gentrifizierung losgegangen. Diese Gentrifizierung ist in vielen Großstädten im vollen Gange und es schwappt jetzt auch hier nach Leipzig. Leipzig ist nicht Hamburg. Leipzig ist viel anfälliger für Mietsteigerungen durch die geringeren Einkommen.
Es gibt viele Beispiele für die Gentrifizierung gerade im Süden, wo viele Leute raus geekelt werden sollen. Ein Beispiel ist die Kochstraße 114. Die Stadtbau AG will die alte Mieter raushaben, um lukrative neue Mieter rein zu bekommen. An der Kochstraße hat sich gezeigt, dass eine konsequente Öffentlichkeitsarbeit zu dieser Problematik etwas bewegen kann. Es gibt dort einen Mieter, der sich durchgesetzt hat, er darf nach der Sanierung dort günstig wohnen bleiben. Wobei die Regel aber nicht die Klage sein darf. Ein aktuelles Beispiel ist der Kampf von Mieterinnen und Mietern in der Holbeinstraße 28 a in Schleußig. Wir haben uns dort als Stadträte jetzt eingeschalten. Die Praktiken des Eigentümers zur Durchsetzung seiner Interessen sind einfach haaresträubend. Das darf nicht die Regel werden.
Wir werden uns zudem dafür einsetzen, dass alternative Wohnprojekte stärker in die Förderung kommen.
Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit des Leipziger Oberbürgermeisters?
Pia Witte: Ein großer Teil seiner Arbeit ist auf Show ausgerichtet. Und ist nicht mit Taten unterlegt. Er ist ein Schauspieler, der die Politik hervorragend zelebriert, aber mit relativ wenig dahinter. Er freut sich, wenn er im Flugzeug nach Übersee fliegt und darauf angesprochen wird, was Leipzig für eine tolle Kulturstadt ist. Aber er verschließt die Augen vor den wirklichen Problemen. Er hat in der letzten Ratsversammlung versucht, das Wort Investitionsstau in Bezug auf Schule zu verbieten. Es darf nicht mehr von Investitionsstau gesprochen werden. Blauäugiger kann man das nicht mehr beschreiben. Das ist kennzeichnend für seine Politik: Mit Schlagworten zu jonglieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir eine starke Linke-Fraktion haben.
Jule Nagel: Man darf auch nicht vergessen, er ist Chef der Leipziger Verwaltung . Jugendhilfekürzungen von über einer Million Euro sind im letzten Jahr von der Verwaltung anvisiert worden, über 15 Freizeittreffs hätten geschlossen werden müssen. Das alles ist über seinen Tisch gegangen, er ist verantwortlich dafür.
Wird es mit Ihnen im Stadtrat zu einer Ausweitung der Förderung im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit kommen?
Jule Nagel: Die Wahlperiode hat für mich mit einer heftigen Kürzung der Jugendpauschale, die der Freistaat Sachsen pro Kopf und Kind pro Jahr zu Verfügung stellt, angefangen. Sie ist über ein Drittel abgesenkt worden. Das ist das Geld, woraus sich die Jugendhilfe und deren Infrastruktur speist. Seitdem haben wir eine stagnierende Förderung auf niedrigem Niveau. Wir setzen uns Jahr für Jahr dafür ein, dass alljährlich mindestens 100.000 € draufgesattelt werden, um das Niveau zumindest zu halten. Auch wenn der Betrag auf einem festen Niveau bleibt, ist es faktisch eine Kürzung, weil Personalkosten wie Betriebskosten steigen. Wir haben vor zwei Jahren mit den Trägern der freien Jugendhilfe im Ausschuss versucht, den realen Bedarf zu erfassen. Es wäre eine halbe Million Euro mehr angemessen gewesen, aber der reale Bedarf wird in den Haushaltsverhandlungen dann immer runter gehandelt.
Nach dem Drama im letzten Jahr mit der angekündigten Kürzung haben wir uns in diesem Jahr darauf verständigt, eine reale Bedarfserfassung zu machen. Wir wollen das Jugendhilfe bedarfsorientiert finanziert wird und nicht nach Kassenlage. Wir haben, seitdem ich im Stadtrat bin, fast keine neuen Projekte in die Förderung hinein bekommen.
Wo sollen die Gelder herkommen? In welchem Bereich des Haushalts würden Sie Einschnitte für die Mehrausgaben bei der Jugendhilfe vornehmen?
Jule Nagel: Wenn die Landes-Jugendhilfepauschale wieder um vier Euro pro Kopf und Jahr und Kind erhöht würde, könnte man schon ordentlich aufsatteln. Bisher waren unsere Haushaltsanträge in diesem Bereich übrigens auch immer mit Gegenfinanzierungen gedeckt.
Pia Witte: Es reizt gewisse Kreise, an bestimmten Stellen im Haushalt Schatten zu organisieren, indem man mehr Geld einstellt als man braucht, um dann Reserven zu haben. Es gibt aber auch Positionen, bei denen ganz bewusst zu wenig eingestellt wird, um bei den Haushaltsberatungen keinen Unmut zu erzeugen. Das sind Pflichtaufgaben, die man bezahlen muss, damit dann beschlossen wird, wir brauchen einen Nachtragshaushalt. Da ist viel Luft in diesem Haushalt, bestimmte Position hin und her zu schieben. Es ist für einen Laien eigentlich kaum nachvollziehbar und für uns ist es schon sehr schwierig, das nachzuvollziehen, denn wir sind ja auch nur Freizeitpolitiker im Stadtrat. Wir haben einen sehr guten haushaltspolitischen Sprecher, der einiges entdeckt hat, wo man Geld rausziehen kann. Wir sind in einer Niedrigzinsphase. Zinsausgaben werden auch angeschlagen im Haushalt, aber in Wirklichkeit sind sie viel niedriger.
Es ist aber auch nicht so, dass wir unendlich viele Spielräume haben. Wir können als Stadt nicht immer Ausfallbürge des Landes spielen. Das Thema Schulsozialarbeiter ist eines der Themen gewesen, bei denen das offensichtlich geworden ist. Die Stadt springt ein und dann kommt das Land und sagt hoppla, die Sozialarbeiter gehören doch gar nicht zum Land, die gehören in die Kommune, weil die mit der Bildung nichts zu tun haben.
Wie beurteilen Sie die Kita-Situation in der Stadt Leipzig und wurde in den letzten Jahren wirklich alles getan, um den Bedarf zu decken?
Jule Nagel: Die Situation ist weiterhin dramatisch, wobei wir jetzt langsam in eine Phase der Entspannung reinkommen. Wir rechnen damit, das 2016 der ganz große Druck weg ist. Scheinbar kommen wir jetzt in eine Phase, wo die Bauprojekte auch umgesetzt werden.
Wir haben als Fraktion, um das gleich an den Anfang zu stellen, vor eineinhalb bis zwei Jahren einen Antrag gestellt, der bei der grundlegenden Berechnung des Platzbedarfs die Stellschrauben verändern will. Bis vor zwei Jahren wurde der Bedarf nach der Belegung berechnet, nach der Belegung der Plätze im Vorjahr. Das ist eine Berechnungsweise, die wir als defizitär angesehen haben. Diejenigen, die keinen Platz bekommen haben, sind da gar nicht abgebildet. Wir haben jetzt vielmehr eine bedarfsorientierte Erfassung der notwendigen Plätze durchgesetzt. Das ist eine ganz andere Vorgehensweise, die die Stadt jetzt langsam in Gang bringen muss. Das schon bei Eltern von Neugeborenen abgefragt wird, ob es perspektivisch gesehen Bedarf an einem Platz gibt. Daraus ergibt sich, dass viel mehr Plätze geplant und auch realisiert werden müssten.
Ein weiterer Punkt des Antrags war ein besseres Baucontrolling in Gang zu bringen. Bis zu 60 Prozent der anvisierten Plätze wurden nicht gebaut. Jetzt haben wir seit anderthalb Jahren eine regelmäßige Berichterstattung im Jugendhilfeausschuss wie auch im Sozialausschuss und können zumindest sehen, wo hakt es und können Druck machen, wenn bestimmte Bauprojekte nicht kommen. Ich glaube hier sind wir auf einen besseren Weg. Das liegt insbesondere am Druck unserer Fraktion und auch anderer Fraktionen.
Die Stadt hat in zwei Vorlagen in den letzten Jahren die Elternbeiträge erhöht und auch das Maß der Erhöhung ausgeschöpft, was das Land als Möglichkeit bereithält. Die Kita-Beiträge werden in Teilen vom Land, der Stadt und den Eltern bezahlt. Und das Land gibt die Möglichkeit einer prozentualen Spanne an. Diese hat die Stadt nun voll ausgeschöpft. Das fanden wir nicht gut und waren im Stadtrat die einzige Fraktion, die das als Problem wahrgenommen hat.
Eine Leserfrage: Steigende Mietpreise, fehlende Familienwohnungen, zu wenige Kitas, fehlende wie zweckentfremdete Spielplätze! Wie familienfreundlich ist Leipzig wirklich noch?
Pia Witte: Es gibt einen Spruch: Eine reiche Schicht kann sich eine arme Kommune leisten. Aber nun haben wir ja in Leipzig keine breite reiche Schicht und die Leipziger leben im Normalbereich beziehungsweise im unteren Normalbereich. Die können sich keine arme Kommune leisten. Die Kommunen werden in Deutschland nicht ausreichend durchfinanziert. Es gab in der Vergangenheit einige Sünden vor allem im Westen, wo sich irgendwelche Bürgermeister auf dem Lande mit Schwimmbädern ein Denkmal gesetzt haben. Das kennen wir alles, das ist nicht das Problem an sich. Das Problem ist dass Kommunen unterfinanziert sind in Deutschland.
Ich habe die Vermutung, dass man das macht, um die Kommunen zur Privatisierung zu zwingen. Privatisierung ist auch eine Form der Umverteilung von unten nach oben. Das ist dieser Rattenschwanz, der sich immer im Kreis dreht. Die Bedarfsplanungen werden nach unten geschraubt und nicht der tatsächliche Bedarf berücksichtigt. Es gehört auch dazu, dass man in der Jugendhilfe kürzt.
Es ist ja nicht nur so im sozialen Bereich, man braucht ja nur auf die Straßen schauen. Wie eines der reichsten Länder der Welt in der Infrastruktur so abbaut, war für mich vor einigen Jahren noch unvorstellbar. Ich bin wie gesagt der Einsicht, das wird gemacht, um die Privatisierung voranzutreiben. Jeder Hausbesitzer weiß, wenn er sein Haus nicht in stand hält, dass es nach einer Weile nichts mehr wert ist.
Da kommen wir wieder zum Bürgermeister, der viel Symbolpolitik betreibt, die in Wirklichkeit gar nichts bringt. Ich finde es klasse, dass Eltern mit einem neugeborenen Kind ein Begrüßungspaket im Familieninfobüro abholen können, aber ich denke, den Leuten wäre viel lieber, wenn sie einen Krippen- wie Kitaplatz in ihrer räumlichen Nähe sicher hätten.
Jule Nagel: Es gibt ja dieses Label familienfreundliche Stadt. Es ist vor zwei oder drei Jahren vom Aktionsplan familienfreundliche Stadt entwickelt worden, aber mit richtig Leben erfüllt worden ist es auch nicht. Das finde ich schade. :
Mit welchen Maßnahmen wollen Sie die weitere Entwicklung der Stadt vorantreiben?
Pia Witte: Den fahrscheinlosen ÖPNV, er steht bei uns schon im Wahlprogramm. Es gibt bei uns auch eine Arbeitsgruppe, die im Detail sich die Finanzierung angeschaut hat. Es soll über eine Umlagefinanzierung geregelt werden. Dies würde natürlich die Preisspirale bei der Fortbewegung aufhalten und würde den ökologischen Anspruch von Fortbewegung befördern. Es ist eine der drei wichtigsten Aufgaben in der nächsten Wahlperiode, den ÖPNV auf gesunde Beine zu stellen.
Wir haben jetzt hier die Situation, dass wir hier Fahrscheinpreise wie in der deutschen Spitzengruppe haben; aber fahren Sie mal in München mit der Straßenbahn das ist ein großer Unterschied zu hier in Leipzig. Es ist ein gigantischer Investitionsstau, der hier aufgelöst werden muss. Wir schieben wie als Bugwelle eine Riesenproblematik vor uns her in dieser Stadt und lächeln schön freundlich dazu. Und das müssen wir in Angriff nehmen.
Das Zweite ist die Wohnungspolitik, an der wir was ändern wollen, so den sozialgebundenen Wohnraum bei Neubauten. Wenn die LWB baut, können wir das selbst beeinflussen; einen Sozialbindungsanteil von 20 Prozent mit rein zu basteln, das wäre ganz großartig. Die Bevölkerungsprognose für Leipzig liegt bei fast 600.000 Einwohnen, da muss man den sozialen Anspruch und die soziale Mischung schon verwirklichen. Der immer genannte Leerstand, der in Leipzig noch da ist, ist zum großen Teil nicht bewohnbar.
Das dritte ist der Bereich der Jugend- und Familienpolitik. Wir sind in Sachsen die Stadt mit der größten Schulabbrecherquote. Die Leipziger Schüler haben in Sachsen auch die schlechtesten Noten in den Zeugnissen stehen. Da ist vieles, was im Argen liegt. Die Lösung der meisten Probleme, die wir im Gespräch angesprochen haben, heißt Bildung Bildung Bildung. Wir müssen viel mehr in die Bildung der jungen Menschen investieren.
Grundsätzlich müssen wir auch über die Jugendhilfestruktur diskutieren. Jugendhilfe muss einen genauso hohen Stellenwert bekommen wie die Kitas. Wir haben eine starke Fokussierung auf Kitas, die Jugendhilfe wird dabei vergessen.
Wie beurteilen Sie die Schulsituation in Leipzig? Und wieso ist die Schulabbrecherquote in Leipzig insbesondere so hoch?
Pia Witte: Meine Motivation wieder in die Politik zu gehen, war die Hartz IV Geschichte. Das hat mich bewogen, jetzt selber wieder ins Geschehen mit einzugreifen. Seit 2003 ungefähr beobachte ich eine soziale Verelendung, die ihresgleichen sucht. Ich kenne eine Familie, die man so als Standardmuster-Familie in Deutschland bezeichnen kann. Vater, Mutter, zwei Kinder. Ich habe schon vor Hartz IV Sozialberatung gemacht, das war die gute alte Sozialhilfe-Zeit. Bereits vor Hartz IV waren sie bei mir in der Sozialberatung. In der Arbeitslosenhilfe hatten die noch eine Perspektive. Die Meinung der Familie war, wir sind zwar arbeitslos, aber irgendwann ändert sich das Blatt und wir finden wieder Arbeit; wir finden dann zurück in die Gesellschaft und uns geht es wieder besser. Als die Familie dann in Hartz IV kam, das war zwar nicht sofort, aber ein längerer Prozess, ist mit denen das passiert, was man eigentlich voraussehen konnte und damals auch viele vorausgesehen haben. Was ich als soziale Verelendung bezeichne. Die hatten die Hoffnung aufgegeben, dass es jemals noch mal besser wird. In den Jobcentern ist denen dermaßen klargemacht worden, dass sie keine Chance mehr in diesem Leben haben, dass der Mann angefangen hat, zu trinken. Die Kinder haben angefangen, die Schule zu schwänzen. Das waren alles Folgeerscheinungen davon, dass man dieser Familie alle Hoffnung genommen hat, dass es noch mal jemals besser wird in ihrem Leben. Mit der Einführung von Hartz IV haben die Menschen abgeschlossen mit dem System. Sie beteiligen sich nicht mehr an bürgerschaftlichen Prozessen, was das ganze wieder verstärkt. Ich sage immer, Politik ist immer nur die Umverteilung des Geldes, was da ist. Wenn die Leute aus dem prekären Bereich ihre Stimme nicht mehr erheben, geht auch die Verteilung des Geldes an ihnen vorbei. Die Leute, die im Stadtrat entscheiden, rekrutieren sich doch fast ausschließlich aus dem Bildungsbürgertum. Dementsprechend wird auch das Geld verteilt.
Ich sehe es als meine Aufgabe im Stadtrat an, die Stimme für diese Bürger zu sein. Und wenn diese nicht mehr schreien, für sie zu schreien. Dass die Geldverteilung nicht ganz an Ihnen vorbei geht. Und das ist ein sich beschleunigender Prozess. Ich war jetzt zweimal in der Wahlperiode im Frauenhaus und habe mich dort mit den Leuten unterhalten. Jetzt in dieser kurzen Zeit hat sich das verschlimmert. Jetzt sind dort die Mütter, deren Mütter nach der Wende im Frauenhaus waren. Da sind Frauen dabei, die wissen nicht, wie sie ihr Baby stillen sollen. Das führt zu einer Bindungsunfähigkeit und sozialer Kälte. Wir waren letztens im Mutterkindheim und haben dort unsere Sitzung durchgeführt. Dort hat uns die leitende Sozialarbeiterin erzählt, die Mütter beziehungsweise Väter sind zum Teil vollkommen bindungsunfähig. Sie mussten Müttern eine Vorrichtung basteln, an der das Baby selbstständig saugen kann, weil sie nicht in der Lage sind, dem Baby selbst die Flasche zu geben. Die Mutter liegt daneben und telefoniert mit dem Handy.
In Leipzig haben wir das Problem der sozialen Verelendung, weil wir viele Fälle haben, die diesen Weg gegangen sind. Es gibt natürlich auch viele Fälle, die sich dagegen gewehrt haben. Aber es ist unheimlich schwierig, wenn man in dieser Situation ist, dagegen zuhalten. Und nicht sprichwörtlich nach der Bierflasche zu greifen. Deswegen soll Bildung früh anfangen, bereits im Kindergarten und auf allen Stufen der Entwicklung weiter fortgesetzt werden.
Die Bildungsempfehlung für Gymnasien ist in Leipzig besonders niedrig in Schönefeld, Neu-Lindenau und Grünau, alles soziale schwache Stadtteile. Das soziale Umfeld und die Bildungskarriere hängen ganz stark zusammen. Und das alles, was ich Ihnen erzählt habe, bedingt die hohe Schulabbrecherquote in Leipzig mit.
Frau Nagel, Frau Witte, möchten Sie zum Abschluss des Interviews noch etwas anmerken?
Jule Nagel: Unser Aufruf und unsere Bitte an alle Leser: Engagieren sie sich und gehen wählen.
Frau Nagel, Frau Witte, wir danken Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.
http://www.tuepfelhausen.de/, 20. Mai 2014