„Kommunalpolitiker*innen müssen Leitfiguren dafür sein, dass die Menschen den Mut nicht verlieren“

Die Journalistin Laura E. Ewert hat mit mir über das Kommunalwahlergebnis, den Wahlkampf, raue Zeiten für politisch Aktive und Methoden zum Mutmachen gesprochen:

 

Heinrich-Böll-Stiftung: Wie lange sind Sie schon in der Kommunalpolitik aktiv?

Juliane Nagel: Ich bin seit 2009 im Stadtrat von Leipzig. Das ist jetzt die vierte Wahlperiode. Besonders am Herzen liegen mir Migrationspolitik, Kinder- und Jugendpolitik, Drogenpolitik, Förderung von Freiräumen und Alternativkultur, sowie die Wohnungspolitik. Deswegen sitze ich im Jugendhilfeausschuss, im Sozialausschuss, im Migranten-Beirat und im Fanprojekt-Beirat.

Und Sie sind Stimmenkönigin bei der Kommunalwahl 2024. 

Ja, entgegen dem Trend habe ich sogar noch Stimmen dazugewonnen, das bedeutet, dass ich die meisten Stimmen von den Kandidierenden aller Parteien, die in Leipzig zur Stadtratswahl angetreten sind, bekommen habe. Aber ich trete auch im Leipziger Süden an, in Connewitz und in der Südvorstadt lebt eher ein jüngeres, urbanes, weltoffenes Milieu.

Was erleben Sie Positives im Kommunalwahlkampf?

Ich hatte im Wahlkampf viele lange Gespräche. Etwa mit einem älteren Herrn, der die Position der Linken zur Ukraine und Russland hinterfragt hat, bis wir so beim öffentlichen Personennahverkehr in Leipzig gelandet sind. Das war wirklich ein längeres Gespräch, mit Zuhören, aber auch mit Erklären. Wenn man es schafft, einen Raum zu schaffen, wo Differenzierung möglich ist, dann ist es ein Erfolg.

Nehmen Sie trotzdem eine Verschlechterung der Stimmung im Wahlkampf wahr?

Auf jeden Fall eine massive Verschlechterung und Zuspitzung der Situation. Wir hatten im Wahlkampf einen sehr hohen Sachschaden an Plakaten. Ich habe eine Straße plakatiert und zwei Tage später waren alle Plakate abgeschlagen. Auch an den Infoständen sind wir öfter angefeindet worden. Vor allem von sehr jungen Leuten, die sich vor uns auftürmen und sagen: „Wir wählen rechts“. So als Provokation. Ich habe gespürt, dass sich bestimmte Leute gestärkt fühlen und sich trauen, unverhohlen zu sagen, dass sie rechts sind.

Ist die Lage ähnlich wie in den Neunzigern, als es schon einmal viele rechte Überfälle gab?

Es ist generationsübergreifend, es betrifft nicht nur junge Leute. Es ist spürbar verankert in der Gesamtgesellschaft. Anfang der 90er gab es auch eine rechte Stimmung in der Gesamtgesellschaft, aber diesmal wirkt es akzeptierter und die Leute fühlen sich sicherer. 

Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Es ist eine schleichende Entwicklung, seit mindestens zehn, 15 Jahren gibt es eine große Unzufriedenheit mit der etablierten Politik. Wenn man Leipzig anschaut, kann man sehen, dass es gerade in den Plattenbauvierteln, wo früher die PDS stark war und in den Randbezirken, die von Eigenheimen geprägt sind, große Wahlerfolge für die AfD gibt. In den prekären Vierteln ist es wahrscheinlich eine Protestwahl. Oder der Wunsch, wieder groß zu sein. Und in den Randgebieten ist es eine Art Veränderungsresistenz oder die Abwehr von politischen Veränderungen.

Ist die Hemmschwelle für Gewalt gegen Menschen oder auch gegen Sachen gesunken

Seit 2014 hat Pegida in Teilen des Ostens die Straßen in Beschlag genommen. Und in diesem Dunst hat sich die Diskursverschiebung weiterentwickelt. Durch verbale und tätliche Gewalt soll gezeigt werden, wer hier das Sagen hat. Ich beobachte das im ländlichen Raum, im Erzgebirge zum Beispiel, da hatte ich am 1. Mai eine Demo angemeldet, da ist es wirklich dramatisch. Es gehört zur Kultur, hasserfüllte Plakate gegen die Ampel-Politik anzubringen, zum Beispiel an den Unternehmenseingängen.

Sind Sie im Wahlkampf nur als größeres Team unterwegs gewesen? 

Bei mir dezidiert im Wahlkreis nicht, die Gefährdungslage ist dort nicht so groß, in dem Restviertel haben wir schon darauf geachtet, dass wir mindestens zu dritt sind. Und es gibt natürlich Gebiete in Leipzig, wo man nur in einer größeren Personalstärke hingehen kann. Viertel, in denen die AfD stark ist und wo eine rechte Alltagskultur dominiert. 

Welchen Anfeindungen oder Angriffe sind Sie ausgesetzt?

Wir haben seit Jahren regelmäßig Hassbriefe, handgemalte Zettel im Briefkasten. Viele migrationsfeindliche Nachrichten und E-Mails. Über Social Media muss man gar nicht reden. Ich mache schon länger antifaschistischen Aktivismus und bin bei Neonazis nie beliebt gewesen. Aber 2014, mit Pegida war ein Dammbruch, seitdem wird man mit Hass überschüttet, Leute setzen sich an Computer und schreiben irgendwas zusammen. 

Wie gehen Sie damit um? Bringen Sie das alles zur Anzeige? 

Ehrlich gesagt nicht. 

Warum nicht? 

Eigentlich müsste man fast eine ganze Stelle schaffen für eine Person, die zum Beispiel, wenn ich etwas getwittert habe und vergessen habe, die Kommentarfunktion auszuschalten, die hunderte Kommentare durchliest und prüft. Einzelne Briefe habe ich in den letzten Jahren schon zum zur Anzeige gebracht, aber das ist eigentlich immer eingestellt worden.

Gibt es so was wie parteiinterne Workshops, die angeboten werden, Vernetzungen oder Initiativen, um den Umgang mit dieser Bedrohungslage zu lernen?

Seit es in Leipziger Westen einen Angriff auf ein Wahlkampfteam gab, bei dem ein Wahlkämpfer von uns verletzt wurde, gibt es eine neue Stufe der Alarmierung. Wir haben uns darauf verständigt, den Vorstand über Angriffe zu informieren, die Polizei anzurufen. Es ist auch ein Deeskalationstraining angeboten worden, das den Menschen, die an Wahlkampfständen stehen, ermöglicht zu erkennen, wenn ein besonderes Aggressionspotenzial vorliegt.

Haben Sie Ideen, was gesamtgesellschaftlich getan werden müsste?

Verantwortungsträger sollten ihren Ton mäßigen, sich ihrer Verantwortung bewusst sein, und nicht die Stimmung gegen bestimmte Minderheiten oder gegen Prinzipien des Zusammenlebens weiter aufheizen. Das würde vielleicht auch ein Signal in die Gesellschaft senden.

Viele sagen, der Schlüssel läge auch in der Bildungspolitik.

Klar, aber das ist nur die eine Seite. Es klingt schnell wie ein Einlenken, aber natürlich gehört auch eine gute Sozialpolitik zur Strategie gegen Hass. Sowie eine bessere Übersetzung der Notwendigkeiten von Veränderungen in Bezug auf Klimapolitik und Verkehrspolitik.

Was gibt es noch für Ideen, sich gegenseitig Mut zu machen? 

Es gibt das „Netzwerk Tolerantes Sachsen“, das die alternativen Zentren für Kultur und die Jugendzentren in Sachsen vernetzt. Und wir haben das Kulturbüro, ein großer Träger, der auch Kommunen und Amtsträger berät. Deren Aufgabe ist auch zu empowern. Die Einzelkämpfer vor Ort sind essenziell, es müssen sich aber auch größere Player schützend vor sie stellen. Ich glaube, das Handeln von Bürgermeistern kleinerer Orte oder von Landräten wird ausschlaggebend dafür sein, ob sich Vertreter demokratischer Mitte-links Parteien überhaupt noch trauen, Politik in diesen Gemeinden zu machen. Das ist eine riesige Verantwortung. Und ich habe ein bisschen Angst, dass die CDU da nicht mitmacht. 

Ihr persönlicher Rat für Resilienz?

Sich im Team austauschen, Erlebtes miteinander teilen, über die eigenen Gefühle reden, aber sich auch klar darüber sein, dass man als Politiker*in in einer privilegierten Position ist, eine privilegierte Sprechposition hat und für andere da sein muss. Man muss als Kommunalpolitiker*in einfach weiter machen und vielleicht auch eine Art Leitfigur sein dafür, dass Menschen, den Mut nicht verlieren.de

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