
Die meisten Menschen in Kyiv haben sich an die Alarme gewöhnt, erzählt uns Tim, den wir am Dienstag getroffen haben. Er arbeitet bei einer Nichtregierungsorganisation und kennt die ukrainische Zivilgesellschaft gut. Für deren Stärkung engagiert er sich gemeinsam mit vielen anderen. Er kennt auch Sachsen und nennt es das „deutsche Herz der Finsternis“. In Deutschland, besonders in Sachsen, ist die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine längst verblasst. Selbst Geflüchtete, die zunächst mit offenen Armen empfangen und gegenüber Geflüchteten aus nicht-europäischen Ländern bevorzugt wurden – nicht nur gesellschaftlich, sondern auch staatlich –, sind inzwischen Anfeindungen ausgesetzt. Die neue Bundesregierung plant zudem ihre sozialrechtliche Schlechterstellung. (Wir haben hingegen stets die Gleichbehandlung aller Geflüchteten auf dem Niveau der Ukrainer*innen gefordert.)
Zurück nach Kyiv: Die Stadt wirkt im Frühling, drei Jahre nach der „full scale invasion“, lebendiger und heller als im Januar 2023. Einigen von uns fällt auf, dass im Straßenbild Männer im „wehrfähigen Alter“ fehlen. Die meisten von ihnen kämpfen an der Front, freiwillig oder unfreiwillig. Der Maidan ist inzwischen ein Zeugnis des Leids, das dieser Krieg verursacht. Angehörige haben dort einen Gedenkplatz für die inzwischen zehntausenden gefallenen Soldat*innen geschaffen, der seit unserem letzten Besuch deutlich gewachsen ist. Kleine Wege zwischen den Erinnerungsstätten führen durch diesen Ort der Trauer und des Gedenkens, Fahnen, Fotos und Blumen säumen die Pfade. Wenige Frauen befinden sich unter den Gefallenen.

Genau wie dieser Ort funktioniert offenbar die ukrainische Gesellschaft: selbstorganisiert, staatsfern und vielfältig. Das haben wir selbst erlebt, und es wird uns auch heute bestätigt. Internationale Debatten über die Zukunft der Ukraine, die über die Köpfe der Menschen hinweg geführt werden, empfinden viele als Verletzung und Verhöhnung. Gerade heute haben die USA laut Medienberichten ins Spiel gebracht, die Krim als russisches Territorium anzuerkennen. Solche Vorschläge treffen die Ukrainer*innen hart und stoßen auf Kritik. Entsprechende Stimmen hat kürzlich auch der MDR-Journalist Thomas Datt in Odessa eingefangen.
Wir sprechen über die Notwendigkeit intensiverer Kontakte zwischen Menschen in Deutschland und der Ukraine. Austauschprogramme – sei es auf wissenschaftlicher Ebene, zwischen jungen Menschen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren – sind durch die Kriegssituation selten geworden, was äußerst kontraproduktiv ist. Gerade jetzt müsste der Austausch gefördert werden. Unser Gesprächspartner verweist darauf, dass es insesonders in Ostdeutschland angesichts der Geschichte mehr Sensibilität für die Belange Mittel- und Osteuropas bräuchte.
Morgen werden wir Vertreter*innen der großen NGO Vostok SOS treffen, die vor allem in der Ostukraine aktiv ist, sowie unseren Genoss*innen von Sotsialnyi Rukh begegnen.