Nach 15 Jahren Graswurzelpolitik will Juliane Nagel in den sächsischen Landtag. Ein Porträt von Jennifer Stange, erschienen im Neuen Deutschland, 2.8.2014
Juliane Nagel ist so etwas wie die inoffizielle Bürgermeisterin von Leipzig. Niemand sonst holte bei den Stadtratswahlen im Mai so viele Stimmen wie die Spitzenkandidatin der LINKEN. Dieses Ergebnis nannte die »Leipziger Volkszeitung« (LVZ) eine »Überraschung«. Verständlich ist diese Verwunderung, denn das Bild, das die Presse seit Jahren gerne zeichnet, ist das einer impertinenten, fast schon unmöglichen, jedenfalls unwählbaren Juliane Nagel.
Man bekommt den Eindruck, sie rede häufig über Probleme, die es nicht gibt. Vor »Gentrifizierung« warnte Nagel bereits, als man sich gemeinhin noch um Leerstand und zu billige Mieten in Leipzig sorgte. Häufig setzt sie sich auch mehr für Migranten und Asylbewerber ein, als der deutschen Seele lieb ist. Selbst ernannte »weltoffene Bürger«, die in ihrer Umgebung keine Asylbewerber oder Moschee ertragen können, sind vor den Kopf gestoßen, wenn Frau Nagel hier Rassismus wittert, während andere Stadtoberhäupter lieber die berechtigte Sorgen der Bürger sehen, die man ernst nehmen müsse.
Die liebsten Geschichten aber, die um und über Juliane Nagel geschrieben werden, spielen im südlichen, babylonischen Teil der Stadt. In Connewitz, wo die gewaltbereite autonome Szene wohnen soll und Juliane Nagel ihr Büro hat. Anfang des Jahres bot ein Ereignis wieder Stoff, um eine typische Juliane-Nagel-Story zu stricken. Ein Polizeiposten hatte in einem ehemaligen Bürgerbüro eröffnet, dessen Scheiben immer wieder mit Gegenständen und Farbe attackiert wurden. Auch die neuen Mieter wurden nicht verschont. Und es gab ganz legalen Protest, eine satirische Kundgebung gegen das Polizeirevier, die Nagel angemeldet hatte. Sprechchöre wie »Ja zum Bier, nein zum Revier!«, gab es dort. Teilnehmer sollen mit Tampons geworfen und ihr nacktes Hinterteil gezeigt haben. Die Polizei fand das überhaupt nicht witzig – erwartungsgemäß. Mitglieder anderer Parteien nutzen die Gelegenheit, um sich zu empören und auch auf Nagels Fraktionskollegen konnte sich die LVZ verlassen. Fraktionschef Sören Pellmann distanzierte sich von »grenzwertigen Äußerungen« und Stadtrat Volker Kühlow fehlte »jedes Verständnis« für diese »stark militante« Aktion.
Dramen wie diese begleiten Juliane Nagel schon, seit sie vor 15 Jahren das erste Mal – damals noch für die PDS – in den Stadtrat zog und wenig später ihren Posten räumen musste. Der Druck war zu hoch, erzählt sie heute, seinerzeit war sie gerade mal 20. Sie hatte in einer Silvesternacht am Connewitzer Kreuz versucht, einen Kumpel aus dem Polizeigriff zu befreien und fuhr dann selbst ein. Die Geschichte wurde im Boulevard aufgeblasen, angereichert mit der Mitteilung, dass Juliane Nagel mit mehr Promille als erlaubt Auto gefahren war und erwischt wurde.
Die LVZ hat also Recht, wenn sie das sehr gute Ergebnis bei den Stadtratswahlen eine Überraschung nennt.
Verblüffend wird es aber erst, wenn man sie kennenlernt. Denn Juliane Nagel ist nicht wie eine Politikerin. Eher die Antithese, beinahe unscheinbar, aber absolut freundlich. Ja, das hat sie schon öfter gehört, sagt sie fast entschuldigend. Wieso sie trotzdem erfolgreich ist? Sie zieht die Augenbrauen hoch und lächelt spöttisch, die Einladung zum Selbstlob nimmt sie nicht an. Sie kämpft ja nicht allein und sie würde auch nicht allein kämpfen, das macht keinen Sinn, sagt sie. Das seismographische Zentrum ihrer Arbeit ist nicht das Stadtparlament, sondern das Linxxnet, ein Projekt- und Abgeordnetenbüro der Linkspartei, das sie 2000 selbst mit aufgebaut hat. Von hier aus arbeitet sie für die Europa-Abgeordnete Cornelia Ernst – und von hier aus wird Graswurzelpolitik wie aus dem Bilderbuch gemacht. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.
Natürlich, hier gibt es Plena, Bündnistreffen gegen Naziaufmärsche und für Flüchtlingsinitiativen. Hier kommen aber auch Leute rein, weil sie eine Räumungsklage am Hals haben, ohne Kita-Platz dastehen, ins Internet wollen – oder weil sie in der Gartensparte gekündigt wurden. Juliane Nagel lacht nicht, belehrt nicht, sie schafft Raum für außerparlamentarische Netzwerke, sie macht mit.
Geduldig und hartnäckig hat sie auch in der Leipziger Linkspartei immer wieder für die Integration verschiedener Gruppierungen und Ansätze geworben, dafür, die Vielfalt in der Partei als Stärke zu sehen. Und hat erst Anfang des Jahres wieder eine Absage kassiert, als ihre Bewerbung für den Vizevorsitz der Leipziger Linkspartei klar scheiterte.
Aber Nagel ist auch in der Linkspartei keine Einzelkämpferin. Sie steht für den jungen emanzipatorischen Flügel, der es in einer Gesellschaft mit sich ausdifferenzierenden Lebensweisen schafft, offen, ansprechbar für Linke zu sein, die sonst nicht mal wählen gehen würden.
Jetzt ist schon wieder Wahlkampf. Endlich tritt Nagel nach 15 Jahren quälender Basisarbeit, 35 Jahre alt, als Landtagskandidatin an. Dass sie befürchtet, die Basisarbeit könnte leiden, klingt fast ein bisschen nach Sozialromantik. Nein, Kitsch und Romantik gehören in Bücher, sagt die Buchhändlertochter. Sie ist eine Idealistin, aber eine realistische: Sie will radikale gesellschaftliche Veränderungen, glaubt aber nicht an den großen, lauten Umsturz, sie glaubt an Transformationsprozesse, die auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen mit unterschiedlichen Mitteln vorangetrieben werden müssen. Eines ihrer Etappenziele ist es, der CDU-Herrschaft in Sachsen nach 25 Jahren ein Ende zu bereiten. Und tatsächlich hat sie Chancen, den CDU-Direktkandidaten in ihrem Wahlkreis direkt zu schlagen.