Seit einigen Wochen tobt eine Art Shitstorm gegen Fans des Bezirksligisten BSG Chemie. Insbesondere die Polizei scheint es auf Teile der ChemikerInnen abgesehen zu haben, wobei sich ein Polizeiobberat aus dem ehemaligen Muldental besonders hervortut. // Beim Heimspiel gegen den ATSV Wurzen am 19.10. wirkt die Stimmungsmache im Vorab offensichtlich. Die Wurzner Spieler verlassen den Platz vorzeitig
Doch der Reihe nach:
Nach dem Bezirksligaspiel BSG Chemie gegen VfB Zwenkau 02 am 28.9.2013 kam es in Zwenkau zu einem vollkommen überzogenen Polizeieinsatz. Behelmte Einheiten stürmten nach Beendigung des Spieles auf die Fans zu und wendeten zum Teil brutale körperliche Gewalt an. Laut Mitteilung der BSG Chemie mussten drei Notarztwagen geholt werden, um verletzte Fans zu behandeln (Video zum Polizeieinsatz, Mitteilung des Vereins und Augenzeugenbericht auf tuepfelhausen.de). Anlass des Einsatzes sei laut Polizei notwendige Identitätsfeststellungsmaßnahmen aufgrund eines Ladendiebstahls im Vorfeld der Partie gewesen. Die Tatverdächtigen werden der Fanschaft des Leipziger Vereins zugeschrieben.
Dass es nicht allein darum gegangen sein kann, liegt aufgrund des Verlaufes des Polizeieinsatzes auf der Hand. Spätestens der Polizeieinsatz beim Auswärts-Pokal-Spiel gegen den FC Bad Lausick am darauffolgenden Wochenende verstärkt diesen Eindruck.
Hier kommen der benannte Polizeioberrat – Frank Gurke – und die Lokalpresse – LVZ Muldental – ins Spiel.
In Bad Lausick waren am 6.10.2013 mehr als 120 Polizeikräfte im Einsatz – ungewöhnlich für ein Fußballspiel dieser Klasse, aber einleuchtend wenn mensch der These einer zunehmend kriminalisierenden Linie gegen die ChemikerInnen folgt.
Die LVZ Muldental legimtiert den Polizeieinsatz von Bad Lausick in ihrer Berichterstattung vom 8.10.2013 im Sinne des Grimmaer Revierleiters Gurke. Demnach sei die Zahl der BeamtInnen logische Konsequenz aus dem Zwenkau-Spiel, wo „ein Supermarkt […] geplündert“ und „beim anschließenden Polizeieinsatz […] Beamte verletzt“ worden wären. Gurke weiß zudem zu berichten, dasss die BSG Chemie mit dem Verein Roter Stern, dessen Anhänger „zumindest teilweise dem linksautonomen Spektrum zuzuordnen“ seien, eine gemeinsame Geschäftsstelle in Connewitz betreiben würde. Eine Behauptung, die er in der LVZ vom 10.10. zurücknehmen muss, da sie jeder sachlichen Grundlage entbehrt. Die BSG Chemie ist mit ihrer Geschäftsstelle seit vielen Jahren in Leipzig-Leutzsch ansässig.
Doch Gurkes Falschdarstellung folgt einem klaren Ziel: die BSG-Fans samt Verein ins schlechte Licht zu rücken und in Verbindung mit Chaos und Gewalt zu bringen. Dass Polizeioberrat Gurke langjährig als Leiter des Polizeireviers Leipzig-Süd fungierte und in dieser Funktion mit AkteurInnen aus dem Ortsteil Connewitz nie richtig warm wurde (siehe Connewitz: Aufruf zur Denunziation und Gentrification im Visier der Sicherheitsbehörden), scheint für diese neuerliche Denunziationsstrategie nicht ganz irrelevant.
Die Berichterstattung über das Spiel in Bad Lausick sollte zudem eins leisten: die Stimmung im Hinblick auf das für den 20.10.2013 angesetzte Punktspiel zwischen BSG und ATSV Wurzen aufheizen. Zur Unterfütterung werden Flyer ins Feld geführt, auf denen mit dem Aufruf „Gemeinsam für Chemie! Nazis und Lokis aufs Maul!“ für eine Fahrt nach Wurzen geworben wird.
Mittlerweile hat das Bündnis aus dem Grimmaer Polizei-Führer und der Lokal-LVZ geschafft, dass der ATSV Wurzen das Heimrecht an Chemie abgetreten hat.
Diese Entscheidung wurde am 11.10.2013 auch von der offiziellen Stadtpolitik in persona des Wurzner OBM Rögelin begrüßt und die Notwendigkeit mit schiefen, dem Extremismusansatz folgenden Vergleichen, unterstrichen. Angeführt wird nämliche eine Partie zwischen dem ATSV Wurzen und Lok Leipzig im November 2005, bei der Lok-Hools ausgetickt waren, diverse Gegenstände gegen die Polizei geworfen und einen Streifenwagen angezündet hatten. Solch ein Szenario soll verhindert werden, so Rögelin.
Alle drei Seiten – Polizei, Medien, Politik – schließen sich unisono einem selbst produzierten Zerrbild an und begründen damit ihre Handeln. Ähnlich einem Zitierkartell, das sich durch gegenseitige Bezugnahme eine eigene Wahrheit schafft.
Außer Acht gelassen wird nämlich, dass der Vergleich mit der Eskalation beim Lok-Gastauftritt 2005 hinkt. Lok-Hools sind im Gegensatz zu denen von Chemie als eher rechtslastig und in hohem Maße gewaltbereit bekannt. Der Aufruf zum Wurzen-Spiel am 20.10. richtete sich explizit gegen „Nazis und Lokis“. Schief ist ebenfalls aus dem Zwenkau-Spiel für Wurzen eine „Hochsicherheits“-Situation (LVZ MTL & Frank Gurke am 8.10.13) abzuleiten. Zur Erinnerung: in Zwenkau trat die Polizei extrem gewalttätig auf.
Noch abgefahrener wird die Szenerie, wenn man die jüngst wieder aufgeflammte Debatte um den Torwart des ATSV Wurzen, der für die NPD im Wurzener Stadtrat sitzt, mitdenkt. Matthias Möbius wurde zwar vom Verein gedrängt sein Mandat für die Nazipartei nicht anzunehmen, der Appell blieb allerdings erfolglos. Eine weitere Handhabe habe der Verein rechtlich nicht, und schließlich sei er Möbius ja der beste Torwart des Vereins, so der Tenor der unmittelbar nach der Kommunalwahl 2009 schwelenden Debatte. Als das NDK Wurzen im Juli diesen Jahres kritisierte, dass das interkulturelle Engagement des ATSV dadurch konterkariert wird, dass ein aktiver Neonazi als Spieler im Verein geduldet wird, schlug dem zivilgesellschaftlichen Verein eine Welle der Empörung entgegen.
Leider kann das Beschriebene nicht als Provinzposse abgetan werden. Die Repressionsorgane haben in Fans der BSG Chemie Leipzig, die als antirassistisch bekannt sind, scheinbar ein Ziel für Kriminalisierung und Gewaltausübung ausgemacht und exemplifizieren diese Linie gemeinsam mit meinungsbildenden Akteuren aus Wurzen. Der Name des Ortes ist dabei austauschbar. Es handelt sich um sächsische Verhältnisse par excellence.
Nachtrag: Beim Spiel BSG Chemie gegen ATSV Wurzen am 19.10.2013 kam es in der 60. Minute zum Spielabbruch. Dem vorausgegangen war ein Foul eines Wurzner Spielers (Spielstand bis dahin 2:0), dem ein 3. Strafstoß folgen sollte. Doch dazu kam es nicht: die Wurzner Mannschaft verließ unvermittelt den Platz. Nach einiger Zeit der Verwirrung wurde die Situation geklärt: die ATSVler bemängelten, dass es zu Pöbelein aus Richtung des Gastgeberblocks gekommen wäre. Trotzdem der Schiedsrichter dies nicht anerkennt und die Gäste zum Weiterspielen auffordert, kommen jene nicht wieder auf den Platz. Gegenüber der Presse gibt der Wurzner Trainer an, dass sein Torwart mit Gegenständen beworfen worden und die Spieler als „Nazischweine“ beschimpft worden wären. Seinen NPD-Torwart hatte der ATSV übrigens zu Hause gelassen.
Über die Konsequenzen des einseitigen Spielabbruchs hat nun das Sportgericht zu befinden.
Auf seiner Seite behauptet der ATSV inzwischen, dass die Sicherheit von Spielern und Betreuern in der herrschenden Atmosphäre nicht mehr gewährleistet war.
Diese Behauptung ist mindestens fragwürdig. Die Stimmung im Alfred-Kunze-Sportpark war an jenem Samstag kaum anders als bei anderen Heimspielen von Chemie. Scheinbar hat die oben beschriebene Stimmungsmache von Polizei und Lokalpresse das ihre getan, um eine Negativ-Perspektive der Wurzner vorzuprägen.
Es bleibt spannend.
Ladendiebstahl hört sich so niedlich an…
Sicherlich ist ein solcher Polizeieinsatz fragwürdig. Trotzdem muss man schon bei der Realität bleiben. Wenn 20-25 schwarz gekleidete/vermummte einen Supermarkt überfallen, ist das kein gewöhnlicher „Ladendiebstahl“ sondern Raub bzw. Landesfriedensbruch. Auf eine solche Straftat muss anders reagiert werden als auf den Penner der sich eine Flasche Bier klaut. Auch scheint unumstritten, dass sich die Räuber unter den Fans befanden. Ich finde es fast genauso skandalös, dass sich diese Fans mit den Räubern solidarisierten. Entweder hat man diese Fans nicht hinreichend informiert, oder sie fanden den Raub in Ordnung. Diese Frage kann sicherlich die Polizei beantworten. Die wurde aber sicherheitshalber nicht gefragt…
Durch weglassen von gewissen Details lässt sich aber viel besser Stimmung gegen die Polizei machen.
@falk:
Die dargestellte Solidarisierung war gar nicht möglich, da niemand wusste weshalb dieser Polizeieinsatz durchgeführt wurde. Es gab keine Ansage über Sinn und Zweck, was auch vom unabhängigen Fanprojekt Leipzig bemängelt wurde:
http://www.fanprojekt-leipzig.de/presse/artikel/polizeieinsatz-fanprojekt-fordert-aufklaerung-anerkennung-seiner-vermittlungsfunktion-durch-die-p.html