Im Hearing der Linksfraktion zur Querdenken-Demonstration am 7. November 2020 in Leipzig sollten verschiedene außerparlamentarische Perspektiven auf die Ereignisse des Tages reflektiert werden, deren Erkenntnisse die öffentliche Debatte ebenso anreichern können wie die politische Arbeit. Eine Zusammenfassung des Abends von Djamila Heß:
Durch zehn Gäste wurden unter Moderation von Juliane Nagel sowohl die Charakteristiken und die Mobilisierungsfähigkeit der Querdenken-Bewegung, deren Durchsetzung mit extrem rechten Akteuren als auch die politische und journalistische Aufarbeitung der Geschehnisse am 07.11. sowie das Versagen der Sicherheitskräfte und die entstehenden Konsequenzen thematisiert.
Soziologe Dr. Alexander Leistner charakterisierte Querdenken als eine zu Beginn vielfältige Sammlungsbewegung, die ein breites Spektrum von Menschen adressiert. In dieser sammelt sich der Protest gegen Corona-Schutzmaßnahmen, die vermeintliche Sorge um Kinder, aber auch Corona-Leugnung und das Verbreiten von Verschwörungsmythen. Dabei gelingt es, unterschiedliche weltanschauliche Milieus wie u.a. esoterisch-alternative Menschen, aber auch Impfgegner und Evangelikale anzusprechen und deren Ressentiment-Strukturen zu aktivieren. Diese heterogene Bewegung vereinheitlichte sich innerhalb kürzester Zeit auf einen ideologischen und organisatorischen Kern, der sich inhaltlich stark in Richtung Verschwörungsdenken, Elitenkritik und des Narrativs des Systemumsturzes zuspitzt. Die Radikalisierung der Bewegung geht einher mit einer starken Anziehungskraft für extreme rechte Akteure und Gewaltbereitschaft aus der Bewegung heraus. Kraft schöpft die Bewegung auch aus den Vergangenheitsbezügen, insbesondere dem symbolischen Bezug auf 1989. Neben der Darstellung in Tradition dieses historischen Moments, ist dabei besonders die Inszenierung der Bewegung als Element einer spezifisch ostdeutschen Widerstandsbewegung zu beachten, wie sie schon bei Pegida genutzt wurde. In diesem Sinne kann Querdenken als Teil einer größeren, wenn auch unscharfen Widerstandsbewegung charakterisiert werden, die von extrem rechten Akteuren dominiert ist.
Der Fotograf Tim Mönch beschrieb seine Erfahrungen während der Demonstration und die stattgefundene Mobilisierung durch extrem rechte Akteure. So waren bei der Demonstration in Leipzig eine Vielzahl parteilicher rechter Akteure wie Mitglieder von NPD, Die Rechte, Neue Rechte, 1% und der AFD anwesend. Unter den nicht-parteigebundenen Teilnehmer*innen, fielen insbesondere Hooligans und neonazistische Kampfsportgruppen aus verschiedenen Städten auf. Diese bildeten bei dem sich herausbildenden Demonstrationszug die gewaltsame Vorhut, welcher die anderen Teilnehmer*innen folgten. Die starke Mobilisierung kann auf die attraktiven Bedingungen zurückgeführt werden, die die extrem rechte Szene in der Vergangenheit auf den Querdenken-Demonstrationen vorfinden konnte: Eine zurückhaltende Polizei, das Ausbleiben von Repressalien bei Verstößen und Gewalt, sowie eine grundsätzliche Unterschätzung des Gewaltpotentials. Diese Bedingungen galten am 07.11. unverändert, obwohl die Mobilisierung durch Chatgruppen bereits im Vorfeld von Expert*innen erkannt und kommuniziert wurde.
Die Abgeordnete Kerstin Köditz thematisierte den problematischen Umgang der sächsischen Behörden mit der Querdenken-Demonstration. Während es einen starken Fokus auf tatsächlich oder vermeintlich gerechtfertigte Kritikpunkte der Bewegung und eine angebliche „Unterwanderung“ durch rechte Akteure gibt, werden die zutiefst undemokratischen, antisemitischen und rassistischen Einstellungen ausgeblendet, die der Bewegung zugrunde liegen. Auch wenn Querdenken durch die Verschiedenheit der Teilnehmenden geprägt ist, sind diese Einstellungen das verbindende Element. Diese Vernetzung extrem rechter Gruppen muss auf die politische Tagesordnung gesetzt werden.
Der Journalist Tarek Barkouni gab einen tieferen Einblick in den Umgang mit der Presse durch Querdenken. Wie sich am 07.11. gezeigt hat, ist Gewalt ein in der Bewegung gebilligtes Mittel, um kritische Berichterstattung zu unterminieren. Während sich Journalist*innen bei den ersten Protesten noch relativ frei und unbehelligt mit Maske innerhalb der Demonstrationen bewegen konnten, änderte sich dieses Bild in den letzten Wochen. Inzwischen gibt es neben friedlichen Demonstrierenden einen nicht unerheblichen Anteil an aggressiven und gefährlichen Teilnehmer*innen – meist aus den verschwörungsmythologischen und/oder extrem rechten Kontexten – die auf die Anwesenheit von Pressevertreter*innen verbal ausfallend und gewalttätig reagieren. Auch am 07.11. wurde die Arbeit der Journalist*innen durch Drohungen und gewalttätige Übergriffe stark beeinträchtigt, was eine angemessene inhaltliche Berichterstattung nahezu vollkommen verhindert hat.
Irena Rudolph-Kokot von Leipzig nimmt Platz berichtete vom Umgang der Versammlungsbehörden mit Querdenken und den Gegenprotesten. Durch Querdenken werden neben berechtigter Kritik an den Maßnahmen zunehmend antisemitische Botschaften und Verschwörungsmythen verbreitet, wobei eine personelle und inhaltliche Überschneidung zu Legida festgestellt werden kann. Während die Polizei bei linken Demonstrationen – nicht nur im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie – stark durchgreift, konnte Querdenken am 07.11. ohne Berücksichtigung der Auflagen ungehindert agieren. Diese Ungleichheit steht in einem harten Kontrast zur Behandlung der Gegenproteste, die zum Teil völlig abgeriegelt und untersagt wurden. Dieses Vorgehen ist nicht nur inkonsequent, sondern zugleich von einer großen Öffentlichkeitswirksamkeit geprägt. Die Querdenken-Bewegung empfindet dementsprechend die Zusammenarbeit mit der Versammlungsbehörde als durchweg positiv und fühlt sich in Leipzig als Demonstrationsort willkommen. Die Interessen des Gegenprotests wurden dagegen kaum berücksichtigt, sondern vielmehr durch ein schlecht informiertes Ordnungsamt, eine unklare Bescheidlage und eine mit der Situation sichtlich überforderte Polizei weiter erschwert.
Die Journalistin Sarah Ulrich informierte über die mediale Aufarbeitung des Tages und die Rolle des sächsischen Staatsapparates. Die journalistische Berichterstattung war im Allgemeinen von einem großen Medienecho mit einer differenzierten Darstellung und einer detaillierten Analyse der beteiligten Gruppen geprägt und zeichnete damit ein gänzlich anderes Bild als die verantwortlichen Politiker*innen. Diese hätten nicht nur sehr viel früher aktiv werden sollen, sondern auch die Verantwortung für die Geschehnisse am 07.11. übernehmen und sich schützend vor die Presse stellen müssen. Zudem müsste eine kritische Analyse von Polizei- und Kommunikationsstrategie erfolgen. Letztere fiel insbesondere durch das Verbreiten von Falschinformationen und fehlende Kritikfähigkeit auf. Es zeigte sich, dass eine kritische Berichterstattung in Sachsen nicht gerne gesehen und die Position der Presse als Korrektiv nicht wertgeschätzt wird. Es braucht politisch von den etablierten Parteien eine klare Abgrenzung von Querdenken und umfassende Strategien, wie mit solchen Bewegungen umgegangen wird damit das Problem nicht wie bisher den vielen aktiven Ehrenamtlichen und der Zivilgesellschaft überlassen wird.
Christine Koschmieder (Autorin) erarbeitete ausgehend von den Ereignissen vom 07.11. die gemeinsame Basis der jüngeren antidemokratischen Bewegungen, die mit Pegida und Legida ihren Anfang nahmen. Diese sind Teil einer Mobilisierung vermeintlich besorgter Bürger*innen, welche besonders im Osten und da ganz besonders in Leipzig von einer starken medialen Sichtbarkeit geprägt ist. So hat man in Sachsen mehr Angst vor dem sich öffentlich entladenden „Volkszorn“ als vor den gefährlichen Ideologien die hinter diesem stecken. Die Mobilisierung dieser antidemokratischen Bewegung zeigt sich jedoch nicht nur in gut sichtbaren Demonstrationen wie der von Querdenken, sondern auch durch die Vertretung in Parlamenten und Institutionen. Obwohl es überall einige Menschen gibt, die die Demokratie ablehnen, sind diese in Sachsen sehr sichtbarer, da ihnen hier nur wenig entgegengesetzt wird. So wird beispielsweise jeder Tabubruch stark beachtet und selbst im Rahmen seiner Ablehnung weiterverbreitet. Die Antwort auf diese Entwicklung kann eine enge Vernetzung und Mobilisierung demokratischer Kräfte sein, die sich nicht in Angrenzung definiert, sondern eigene Narrative prägt.
Dr. Robert Feustel, Politikwissenschaftler, geht auf die Wahl Leipzig als Versammlungsort von Querdenken und den Umgang mit der Bewegung ein. Die Stadt ist für die Bewegung insbesondere im Rahmen einer oft strapazierten Revolutions-Rhetorik relevant und verspricht symbolträchtige Medienbilder. Auch der große Gegenprotest sichert der medial versierten Bewegung Aufmerksamkeit und Reibungsfläche. Dagegen ist die Querdenken-Bewegung selbst nicht nur sehr viel kleiner, als sie wirkt, sie verfügt außer dem systemstürzerischen Ansatz über keinerlei gemeinsame Basis. Sie zieht ihre Kraft aus der medialen Berichterstattung und der politischen Thematisierung, ohne deren „Gegenruhm“ sie bald zerfällt. Der Umgang mit der Bewegung könnte demzufolge in einer stärkeren Ignoranz und einem Mehr an „nichtberichten“ begründet sein.
Paul Zschocke von Chronike.LE beschrieb die Traditionslinien von Querdenken und die Bezüge zu lokalen rechten Akteuren. Dabei scheint die Bewegung eher an die Montagsmahnwachen für den Frieden als an Legida anzuknüpfen, was sich sowohl an der propagandistischen Begleitung als auch an der inhaltlichen Ausrichtung zeigt. Querdenken kann als Teil eines neuen Mobilisierungszyklus der Rechten interpretiert werden, der sich weniger auf den Nationalsozialismus und Geschichtsrelativierung bezieht, sondern an aktuellen Umbrüchen und Krisen abarbeitet und der Bewegung neue Milieus und Subkulturen aktiviert. Bei Querdenken sind dies insbesondere Personen aus alternativen Szenen, die oft von den Maßnahmen direkt betroffen sind, beispielsweise aus dem Bereich ganzheitlicher Gesundheit oder Esoterik. Nicht zuletzt finden in der Bewegung eine Reihe von Verschwörungsmythen Platz, die ein stark antisemitisches Weltbild offenbaren. Die Bewegung ist ein hoch fragiles Bündnis ist, dass stark von rigiden Maßnahmen und einem schlimmen Verlauf der Pandemie abhängig ist. Dennoch werden die antisemitischen Haltungen auch nach einer Auflösung ein Risiko darstellen und weiter in den Köpfen der Menschen verbleiben.
Johannes Lichdi (Rechtsanwalt und Stadtrat in Dresden) beleuchtete neben versammlungsrechtlichen Fragen ebenso die Reaktion der Koalitionspartner der sächsischen Regierung. Da aus rechtlicher Sicht auch für unwissenschaftliche Meinungen und rechte Perspektiven protestiert werden darf, orientierte sich die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vor allem an pandemiebedingten Fragen. Bei der Entscheidung ist zu kritisieren, dass das Gericht im vornherein für seinen Beschluss ausschließlich die Aussagen der Polizei in Bezug auf das zu erwartende Versammlungsgeschehen berücksichtige. Zum zweiten muss das Staatsversagen am 07.11. selbst kritisiert werden, in dessen Rahmen auf eine Durchsetzung des Infektionsschutzgesetzes verzichtet wurde. Dadurch werden nicht nur Anti-Coronademonstrierende ermutigt, sondern zugleich Menschen, die sich von den Maßnahmen eingeschränkt fühlen, ungerecht behandelt. Im Zuge der Auswertung haben sich sowohl Ministerpräsident Kretschmer als auch der Innenminister als unfähig bewiesen und es abgelehnt, selbst Verantwortung zu übernehmen. Die Reaktion von Politiker*innen von Grünen und SPD haben gezeigt, dass es bezüglich des Vorgehens keine Absprache innerhalb der Koalition gab, und diese Parteien keinerlei Einfluss auf den Innenminister haben. In Sachsen gibt es letztendlich keine gemeinsame Geschäftsgrundlage für die Koalition gegen die AFD.
Fragen aus dem Publikum
-
Die LIZ-Online hat davon gesprochen, dass es vor dem neuen Infektionsschutzgesetz vom Mittwoch, keine ausreichende rechtliche (verbindliche) Grundlage für einen „harschen“ Polizeieinsatz gegeben hätte. Wie ist das zu bewerten?
Johannes Lichdi: Das stimmt nicht. Es ist zu Recht zu kritisieren, dass die gesamten Corona-Maßnahmen nicht auf ausreichender gesetzliche Grundlage beruhen. Aber natürlich hatte die Polizei nach der rechtlichen Lage Eingriffsrechte gehabt. Das hat mit der Entscheidung im Bundestag keinen Zusammenhang.
-
Die Polizei hat für morgen Beamt*innen zum Schutz von Journalist*innen eingeplant. Es wird auch Begleitung angeboten. Würdet ihr so was in Anspruch nehmen?
Tim Mönch: Eher nicht, der Polizeischutz würde die journalistische Arbeit behindern, zudem ist das Vertrauensverhältnis zu der Polizei zerrüttet.
Tarek Barkouni: Der Polizeischutz behindert die für die journalistische Arbeit wichtige Mobilität. Die Polizei sollte eher bei Bedrohung Ansprechpartner sein, als ständiger Begleiter.
Sarah Ulrich: Die Arbeitsbedingen am 07.11. waren extrem schlecht, weswegen ich u.a. morgen auch nicht dabei sein werden. Die journalistische Arbeit muss auch ohne persönlichen Schutz gewährleistet werden.
-
Wie ist die Beziehung zwischen Polizei und Rechten und Neonazis zu bewerten?
Paul Zschocke: Die Querdenken-Bewegung betrachtet die Polizei als heimlichen Sympathieträger. Dies sieht man durch das polizeiliche Vorgehen am 07.11. und Skandale von Verstrickungen von Polizei und Rechtsextremismus bestätigt.
Kerstin Köditz: Es braucht dringend eine wissenschaftliche Untersuchung von rechter Gesinnung bei der Polizei.
-
Nach 07.11. haben auch viele linke Akteure nach einem härteren Vorgehen der Polizei gerufen. Ist das eine adäquate Antwort?
Kerstin Köditz: Das tatsächliche Problem ist die Ungleichbehandlung rechter und linker Akteure durch die Polizei. Auch von Querdenken müssen die Auflagen umgesetzt werden.
Johannes Lichdi: Versammlungsrecht ist ein Grundrecht, das neutral angewendet werden muss. Dessen Gesichtspunkt sind konkrete Anhaltspunkte für die öffentliche Sicherheit. Die Gesundheit der Teilnehmer*innen und anderer Leipziger*innen sind ein zulässiger Grund der Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Das Problem ist die ungleiche Anwendung gegenüber rechts und links seitens der Polizei. Diese stellt sich im Falle Querdenkens blind, um nicht eingreifen zu müssen.
-
Fazit: Was ist jetzt nötig?
Alexander Leistner: Die konkrete Betroffenheit macht Institutionen, wie z.B. Schulen zu Orten an denen Ideologien von Querdenken hereingetragen werden. Dies überfordert die Menschen vor Ort (z.B. Lehrer*innen) jedoch, zudem sollten die langfristigen Effekte und Prägungen der Bewegung nicht unterschätzt werden
Tim Mönch: Die zunehmende Radikalisierung der Querdenker und die Mobilisierung der extremen Rechte sollte verstärkt im Blick behalten, beobachtet und dokumentiert werden.
Kerstin Köditz: Probleme bei folgenden Demonstrationen müssen weitergeleitet werden, damit der Innenminister damit konfrontiert werden kann.
Tarek Barkouni: Journalist*innen müssen Falschnachrichten auffangen und Menschen auf den Pfad der Wahrheit zurückbringen.
Irena Rudolph-Kokot: Eine linke Perspektive auf die Bewegung muss verstärkt positioniert werden und es braucht nach der Pandemie eine Offensive für die Freiheitsrechte.
Sarah Ulrich: Es gibt viel Expertise zur Bewegung und viel Material, auf das sich Politikmachende stützen können. Diese müssen jedoch auch darauf zurückgreifen.
Christine Koschmieder: Es gibt das Problem des Derailing: „Schwachsinns“-Argumente dürfen nicht die eigenen Perspektiven verdrängen, stattdessen müssen eigene Alternativen stark gemacht werden.
Dr. Robert Feustel: Es sollte sich nicht nur mit dem „Schwachsinn“ der Bewegung beschäftigt werden, sondern gemeinsam produktiv gearbeitet werden.
Paul Zschocke: Es darf nicht naiv das Narrativ der wütenden Bürger*innen wiederholt werden, sondern deren gewalttätiges Potential muss ernstgenommen werden.
Johannes Lichdi: Die Mobilisierung eines gesellschaftlichen Gegengewichts ist wichtig. Zugleich müssen rechte Netzwerke, die sich gebildet haben, ernst genommen werden.