Das Corona-Virus hat auch die Bundesrepublik, hat auch Leipzig voll im Griff. Tag für Tag werden neue Einschränkungen vorgenommen. Das Verhängen einer Ausgangssperre bzw. Ausgangsbeschränkung scheint nur eine Frage der Zeit. Ein Versammlungsverbot ist in Leipzig per Allgemeinverfügung verhängt, Grenzschließungen und – kontrollen sowie ein Einreiseverbot für Drittstaatenangehörige verhängt. Telekommunikationsanbieter geben Daten von Telefonanschlussinhaber*innen heraus, damit das Robert-Koch-Institut die Bewegungen der Bevölkerung nachvollziehen kann. Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren wird diskutiert. Und die Polizei kontrolliert schon jetzt die Straßen, bewacht Spielplätze und löst Veranstaltungen auf. Grenzüberschreitende Solidarität zum Beispiel durch die Aufnahme der im Elend lebenden Geflüchteten auf den griechischen Inseln sind faktisch ausgesetzt.
Vieles scheint verständlich zu sein in diesen Zeiten. Es sind vor allem die nachdrücklichen Appelle das Verhalten zu ändern, Distanz zu halten und größere Zusammenkünfte zu vermeiden. Verständlich ist Menschen in Homeoffice zu schicken, Einrichtungen des sozialen Lebens zu schließen und für die parlamentarische Politik auch auf Sitzungen zu verzichten.
Trotzdem ist Vorsicht geboten!
Heribert Prantl schreibt in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung: „Man muss aber auch fragen, was angerichtet wird, wenn Grundrechte und Grundfreiheiten stillgelegt und das gesellschaftliche Miteinander ausgesetzt werden. Wird die Corona-Krise zur Blaupause für das Handeln in echten oder vermeintlichen Extremsituationen? „
Und hier ist der Knackpunkt: Eine freiheitliche Gesellschaft zeigt ihre Stärke derzeit nicht im fahrlässigen oder bewussten Brechen von appellativ formulierten Verhaltenshinweisen. Eine freiheitliche und solidarische Gesellschaft nimmt Hinweise vor allem der Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen zur Eindämmung des Corona-Virus ernst. Eine aufgeklärte und kritische Gesellschaft hinterfragt rein nationale Abschottungs- und staatliche Überwachungsmaßnahmen, die gegen die Ausbreitung des Virus nichts anrichten werden. Und opponiert wenn der sächsische Ministerpräsident von 2-jährigen Haftstrafen für Menschen, die sich nicht an die Verhaltensregeln halten, schwadroniert.
Und genau das gilt auch für die in großen Schritten nahende Option der Ausgangssperre/ Ausgangsbeschränkung. Hier scheint sich die Dystopie einer komplett kontrollierten Gesellschaft, die noch dazu zu allem Ja und Amen sagt und sich den eigenen Handlungsspielraum nehmen lässt, zu realisieren. Die Inkraftsetzung von polizeilicher oder militärischer Willkür, deren Handlungsschnur die Herkunft, der soziale Status oder die politische Einstellung von Menschen ist und die durch ihre eigene herausgehobene Rolle ein Eigenleben entwickelt. Eine Ausgangssperre ist ein heftiger Eingriff in Grundrechte. Der Effekt zur Eindämmung des Virus fragwürdig.
Fragen, die wir stellen müssen
Es ist ein Irrwitz, wenn in diesen Zeiten Menschen weiter schufen müssen, die nicht in so genannten systemrelevanten Bereichen arbeiten. Es ist zu wenig, wenn der Dank an die Verkäufer*innen in Lebensmittelmärkten, Apotheken, Drogerien, Spätis, an Sozialarbeiter*innen und Erzieher*innen in der Jugendhilfe, Wohnungslosenhilfe, Flüchtlingsarbeit, Kinderbetreuung, die Verwaltungsmitarbeiter*innen, das medizinische Personal, Straßenbahn- und Busfahrer*innen rein symbolisch bleibt und nicht durch privilegierten Zugang zu Schutzvorkehrungen und Lohnzulagen gewürdigt wird. Es braucht jetzt ein Bedingungsloses Grundeinkommen oder eben Lohnfortzahlungen, Zulagen für Sozialleistungsempfänger*innen, es braucht einen Mietenerlaß für Bedürftige und Kleingewerbe. Es braucht die sofortige Entprivatisierung des gesamten Gesundheitswesens!
Wir müssen uns über die konkrete willkürliche Kontrollpraxis im Rahmen der Ausgangssperren/ Ausgangsbeschränkungen hinaus vor Augen führen wer die Verlierer*innen dieser Regelung sein werden.
Es sind Wohnungslose, die keine Wohnung, die keinen geschützten Rückzugsraum haben. In Frankreich wurden Betroffene bereits mit Bußgeldern belegt.
Es sind Geflüchtete, die in Massenunterkünften keine Privatsphäre und auch keinen Raum für Quarantäne haben. In Suhl verbreitete die Polizei Falschmeldungen über den (legitimen) Protest von Geflüchteten, die dort zu über fünfhundertst in Erstaufnahmeeinrichtung komplett unter Quarantäne gestellt wurden.
Es sind Menschen, die in beengten Verhältnissen leben müssen, weil sie sich keine größere Wohnung leisten können.
Es sind Frauen, die Bedrohungen und Gewalt ihres Partners entfliehen wollen, sei es nur temporär.
Für diese Gruppen ist der öffentliche Raum Lebensraum, Erholung oder sogar Schutz.
Eine Ausgangssperre ist wie auch die diskutierte Ausgangsbeschränkung ein repressives Mittel, das zum Zuge kommt, bevor alle Alternativen ausgelotet wurden und vor allem bevor wir selbst unseren Beitrag leisten. In diesem Sinne kritisiere ich auch scharf, dass Menschen meinen, sich in Connewitz jetzt Scharmützel mit der Polizei leisten zu müssen, weil sie im Zuge eines Grillens irgend etwas anzünden. Solcher Quatsch delegitimiert nicht zuletzt auch solidarische Nachbarschaftshilfe oder Solidarität mit Marginalisierten, die sich punktuell über bestehende Regeln hinwegsetzt, ja hinwegsetzen muss. (Dazu muss allerdings gesagt werden, dass das Feuer von Anwohner*innen selbst gelöscht und auch die Feuerwehr entgegen medialer Darstellungen nicht aggressiv angegangen wurde.)
In diesem Sinne: Tragen wir das bei, was wir persönlich können. Bleiben wir solidarisch. Bleiben wir kritisch!
Hallo Jule,
sehr guter und richtiger Artikel, danke hierfür.
Eine kleine Sache stört mich jedoch. An allen möglichen Stellen nutzt du *innen, um beide Geschlechter zu nennen. Nur bei den Frauen, die der Bedrohung und Gewalt ihres Partners entfliehen wollen, geschieht das nicht.
Als ehemals selbst Betroffener von häuslicher Gewalt durch meine Partnerin, als auch als Freund einer Lesbe, die jahrelang durch ihre Partnerin Gewalt erfahren musste würde ich mir auch hier die Ausweitung auf Frauen und Männer als Opfer sowie Partner*innen als Täter wünschen. Oder das *innen im ganzen Artikel weglassen, das stört nämlich ungemein den Lesefluss.
LG, Micha