Seit geraumer Zeit ist im Außenbereich der Westhalle des Leipziger Hauptbahnhofes lautstarke klassische Musikbeschallung zu vernehmen. Was im ersten Moment wie ein nettes Ständchen an die BesucherInnen der Stadt erscheint, entpuppt sich beim genaueren Hinsehen bzw. -hören als mehr oder weniger subtile Methode um unerwünschte Personengruppen aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben.
Im Bereich des zentral gelegenen und gut erreichbaren Leipziger Hauptbahnhof halten sich dauerhaft TrinkerInnen, Punks und andere marginalisierte Personen auf. Dies korrespondiert mit der Situation in zahlreichen Städte in der Bundesrepublik und weltweit und gehört somit zur Alltagsrealität. Gerade diese Gruppen brauchen den öffentlichen Raum ganz besonders: Als „Wohnzimmer“, Treffpunkt oder Arbeitsort.
So manchen Akteuren scheint dies jedoch nicht in den Kram zu passen. Zum einen, weil die „Herumlungernden“ das Bild einer aufpolierten, sauberen Innenstadt und damit auch den Hauptbahnhof als so konstituierten Ort des Konsums stören, zum anderen mögen sich einzelne Menschen auch individuell gestört fühlen.
Neben unmittelbar repressiven Mechanismen zur Vertreibung der als „Störfaktoren“ identifizierten Personengruppen – wie Polizeikontrollen, Security-Streifen oder polizeiliche Videoüberwachung – kommen klassisch auch scheinbar „sanfte“ Methoden zum Einsatz. Dazu gehört neben der Umgestaltung von öffentlichen Sitzmöbeln zu unbequemen Sitzflächen, dem Tilgen von wetterfesten Unterstellmöglichkeiten auch die Beschallung mit klassischer Musik. In zahlreichen deutschen Städten wird diese Methode zur Vertreibung von missliebigen Personengruppen von repräsentativen Orten genutzt. So zum Beispiel in Hamburg und Berlin auf U-Bahnhöfen gegen Drogenkonsumierende, in der Innenstadt von Essen gegen Jugendliche, in Hannover im Bereich einer Bank gegen TrinkerInnen. Die Reihe der Beispiele ließe sich schier endlos fortsetzen.
Nun also auch in Leipzig. Weil die „klassischen“ Maßnahmen wie Videoüberwachung des Bahnhofsvorplatzes, eine restriktive Hausordnung im Bahnhofsinneren, Polizei- und Securitystreifen scheinbar nichts ausrichten können und ein Alkoholverbot im öffentlichen Raum von einer Stadtratsmehrheit abgelehnt wurde, greift man am Hauptbahnhof nun zum Mittel der Musikbeschallung. Diese seit mindestens Juni 2017 praktizierte Maßnahme scheint Wirkung zu zeitigen: Die vor dem Hauptbahnhof aufhältigen Personengruppen haben sich sichtbar reduziert.
Was im Sinne des Stadtmarketings und von OrdnungsfanatikerInnen als Erfolg auf effizientem Wege erscheinen mag, ist jedoch nichts anderes als eine Form gezielter Verdrängung von Menschen aus dem öffentlichen Raum – genehmigt durch das Leipziger Ordnungsamt.
Vor einigen Jahren kommentierte der Musikpädagoge Michael Büttner die offensichtliche Verdrängungsstrategie der Musikbeschallung treffend: „Das Hören von Musik ist ein freiwilliger Akt. Bahnhöfe hingegen sind öffentliche Räume, in denen sich der Mensch im Sachzwang befindet, ein Verkehrsmittel zu benutzen. Musikbeschallung heißt: den öffentlichen Raum für Manipulation zu missbrauchen.“ (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15930914.html)
Die Nutzung des öffentlichen Raumes durch verschiedenste Personengruppen ist immer konfliktbehaftet, hier spiegeln sich zudem (wachsende) soziale Schieflagen. Ein Eingriff in die öffentliche Widmung – egal ob durch harte oder weiche Maßnahmen – bedroht die Idee des Gemeinwesens und wird zur Politik der Exklusion, wenn er sich gegen bestimmte Personengruppen richtet (was meist der Fall ist). Statt repressiver Maßnahmen braucht es im Falle des Ausbruchs von Konflikten eine offene Debatte um Problemlösungen, die den öffentlichen Charakter der betroffenen Räume nicht bedroht. Lösungsmechanismen können beispielsweise Moderation zwischen Konfliktparteien, Kommunikationsoffensiven, soziale Arbeit/ Streetwork, alternative, ggf. auch komfortablere Aufenthaltsräume/ Anlaufpunkte, die Einrichtung von Drogenkonsumräumen etcpp. sein. Dass es zudem einen grundsätzlichen sozialpolitischen Paradigmenwechsel braucht, hin zu einem garantierten würdigen Leben für alle Menschen, sei nur am Rande erwähnt.
Am Hauptbahnhof in Leipzig waren ernsthaften Konfliktlagen nicht zu erkennen. Eine öffentliche Kommunikation von Problemen blieb ebenfalls aus. So kann nur geschlussfolgert werden, dass es hier um die „Bereinigung“ des Hauptbahnhofes als „Aushängeschild der Stadt“ geht.
PS: An dieser Stelle will ich noch transparent machen, dass ich am 14. Juni 2017 eine offizielle Anfrage an das ECE-Centermanagement, das den Hauptbahnhof verwaltet, gerichtet habe. Hier die Antwort, die die These der Vertreibungsmotivation nicht bestätigt:
„Der Promenaden Hauptbahnhof ist ein wichtiger Treffpunkt in unserer gemeinsamen Stadt. Die Musikbeschallung mit klassischer Musik soll Leipzigs besondere Rolle als Musikstadt, wie z.B. beim Bachfest hervorheben und bereits bei Ihrer Ankunft am Bahnhof die Gäste empfangen.
Zur Zeit setzen wir diese Musik seit einigen Wochen während unserer Öffnungszeiten ein und haben diesbezüglich eine Genehmigung bei der Stadt Leipzig dafür eingeholt.“
Bildquelle: Joeb07, lizensiert unter einer Creative-Commons-Lizenz
Umgangssprachlich gibt es den Begriff „Bahnhof“ eigentlich nicht mehr.
Es trifft eher „Erlebnisbereich mit Gleisanschluss“ zu. Als ehemaliger Eisenbahner halte ich mich gern in diesen Erlebnisbereichen auf, eben wegen der Erlebnisse. Herumstehende oder sitzende Personen oder Personengruppen stören mich nicht. So etwas ist mir lieber, als ein staubtrockener, steriler Bereich. Ich bin auch noch nie belästigt worden. Das passiert eher in meinem Wohngebiet. Wobei „Belästigung“ ein Sammelbegriff ist. Ich wurde eher angesprochen und um eine Spende gebeten. Ich habe immer Hartgeld in den Hosentaschen und spende hin und wieder ein paar Euro. Vor allem wenn ich mit den Menschen ins Gespräch komme. Als sehr einsamer Mensch empfinde ich diese Gruppen als realitätsnahe Gemeinschaft.
Wem diese Realität nicht passt, braucht ja nicht hinsehen oder stehenbleiben. Wegsehen ist schon immer der einfachste Weg sich aus allem rauszuhalten.
Ich höre gern klassische Musik. Aber wenn es zum aufdringlichen Gedudel wird, so wie in großen Kaufhäusern, dann sollte man es abstellen. Ich denke da vor allem an die in diesem Bereich tätigen, die ja nicht flüchten können.
Kurt Meran von Meranien
Ich hoffe,Sie engagagieren sich dann aber auch für von Fluglärm Betroffene ,sowie durch laute Musik terrorisierte Anwohner ,ausgehend von der Leipziger Clubszene bis in die Morgenstunden (ausreichend Schlaf ist ein Grund und Menschenrecht und bei Mangel entstehen schwere gesundheitl.Schäden)!Die Klientel vor und im Bahnhof hat zumindest die Möglichkeit sich der Beschallung zu entziehen,die Obengenannten weniger!PS:Wer linke Gewalt relativiert(Connewitz, G20 Hamburg),dem kaufe ich sein Engagement für soz.Benachteiligte schon lange nicht mehr ab!
Hallo Max,
klar engagiere ich mich in verschiedener Hinsicht für Belange von Menschen.
Es gibt aber einen fundamentalen Unterschied zwischen den eigenen vier Wänden und dem öffentlichen Raum. Letzterer gehört faktisch allen. Gezielte Ordnungsmaßnahmen nach Vorstellungen einzelner durchzusetzen. finde ich gefährlich, gerade wenn es Leute trifft, die eben oft keine eigenen vier Wände haben.
Das schmälert den Einsatz für Menschen, die in ihren Wohnungen lärmbelästigt sind, nicht.
Wenn wir uns das Beispiel des Instituts für Zukunft anschauen, wo es (angeblich) massive Beschwerden gibt wegen nächtlicher Musik: Hier hat das Ordnungsamt geprüft und gar nicht so viele und schon gar ncht massive Beschwerden festgestellt. Das IfZ selbst sorgt sich den Lärmschutz zu optimieren und tritt in Kommunikation. Genau das ist der richtige Weg. Und wäre der richtigere am Bahnhof gewesen.
Schlussendlich bin ich sehr interessiert daran zu sehen, wo ich linke Gewalt relativiere bzw relativiert habe?