032. Sitzung des 6. Sächsischen Landtages, 20.04.2016
Einbringung von MdL Juliane Nagel in 1. Lesung des Gesetzentwurfs der Fraktion DIE LINKE in Drs 6/4865 „Gesetz über die Neuordnung der Flüchtlingsaufnahme im Freistaat Sachsen und zur Änderung weiterer Vorschriften“
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Am I an animal?“ – also, bin ich ein Tier? -, hat mich ein Geflüchteter an einem ErstaufnahmeInterim in Leipzig im letzten Herbst gefragt. In der Halle, in der er untergebracht war, war er dies mit fast 2 000 Menschen, darunter Kinder und Frauen, Alte, Kranke und von langen Fluchtwegen geschundene Menschen. Nur provisorische Wände trennten die vielen Menschen voneinander. An Ruhe, Rückzug oder Privatsphäre war nicht zu denken. Das Essen bestand aus kargen Miniportionen. Mehrere Dutzend Menschen mussten sich WC und Duschen teilen. Der Tristesse des Gewerbegebietes, in dem das Erstaufnahme-Interim angesiedelt war, zu entfliehen, war vielen der dort Untergebrachten nicht möglich, denn ohne Registrierung kein Bargeld. Auf zahlreiche Orte Sachsens ist dieses Szenario quasi übertragbar, und an vielen Orten kamen eine krasse rassistische Stimmung und Gewalt von außen hinzu.
Die Kehrseite dieser Schilderung waren und sind Tausende Menschen, die sich haupt- und vor allem auch ehrenamtlich engagierten und damit faktisch die originären Aufgaben des Staates bei der Aufnahme und Versorgung von geflüchteten Menschen übernahmen. Genau diese Menschen haben über Monate Übermenschliches geleistet, haben das faktische Staatsversagen kompensiert und humanitäre Krisensituationen abgewendet. Was wir im vergangenen Jahr an Missständen, an Strukturproblemen und an Defiziten erleben mussten, war der finale Anstoß für unseren Gesetzentwurf zur Neuordnung der Flüchtlingsaufnahme in Sachsen.
Wir sind uns sicher: Es braucht mehr als den Goodwill der Zivilgesellschaft, von Politik und einzelnen Mitgliedern der Regierung; nein, wir brauchen eine stabile und zeitgemäße Basis, um die Aufnahme, Unterbringung, Versorgung, Betreuung und Teilhabe von geflüchteten Menschen in Sachsen zu organisieren.
Die derzeitige Ruhe ist trügerisch. Um dies festzustellen, reicht ein Blick an die Außengrenzen der Europäischen Union, aufs Mittelmeer, nach Griechenland und in die Türkei. Dort ereignen sich täglich humanitäre Katastrophen, Tragödien, während sich die verantwortliche Politik in diesem Land über das Absinken der Flüchtlingszahlen freut und dies auch feiert.
Wir sollten uns jetzt vorbereiten und belastbare Strukturen schaffen, Qualitätsstandards festschreiben und eine auskömmliche Finanzierung für die humanitäre Pflichtaufgabe der Aufnahme von Geflüchteten sicherstellen; denn die Menschen werden sich ihre Wege suchen, sie auch finden und wieder hier ankommen.
Das bisherige Flüchtlingsaufnahmegesetz, das im Wesentlichen aus dem Jahr 2007 stammt, ist karg und konzentriert sich auf Zuständigkeits- und Kostenregelungen. Es hat sich mittlerweile als offensichtlich untauglich erwiesen, den aktuellen Herausforderungen beizukommen. Wir stellen das Gesetz mit unserem Entwurf breiter auf, wollen Zuständigkeiten sowie Finanzierungs- und Kostenregelungen verändern und vor allem Maßnahmen zur Integration und Teilhabe festschreiben, nach dem Leitbild einer tatsächlichen Willkommensgesellschaft und der Teilhabe vom ersten Tag an. In vorgenanntem Sinne ist ein Kernpunkt des Gesetzes die Implementierung der Regelungen der EU-Aufnahmerichtlinie in das Landesrecht. Die Aufnahmerichtlinie definiert europaweit einheitliche Standards bei der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten. Die Aufnahmerichtlinie hätte bis Juli 2015 in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Weil das nicht passiert ist, ist auch gegen die Bundesrepublik ein Vertragsverletzungsverfahren anhängig. Andererseits gelten die Regelungen der Aufnahmerichtlinie unmittelbar. Geflüchtete, die hier in Sachsen leben, können bereits jetzt die aus den Bestimmungen folgenden, darin festgeschriebenen subjektiven Rechte einklagen. Vor diesem Hintergrund und im Zeichen einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik, die ja immer greifbarer wird oder von der immer mehr geredet wird, ist es mehr als vernünftig, dem auch landesgesetzlich Ausdruck zu verleihen. Zudem haben wir aus der EU-Aufnahmerichtlinie Regelungen zum Umgang mit besonders schutzbedürftigen Personen, zum Zugang zu Information und Beratung, zu Sprachkursen, zum Zugang zu Bildung und zu Gewaltschutzmechanismen für Unterkünfte in das Gesetz übernommen.
Wir nehmen zur Kenntnis, dass es in vielen dieser Bereiche kleine Fortschritte gibt, dass das DRK und Wohlfahrtsverbände als Träger von Einrichtungen Qualitätsstandards definieren und vereinbart haben. Aus unserer Sicht bleiben aber klar definierte, transparente, universelle Mindeststandards unabdingbar.
Die nächste grundlegende Änderung, die unser Gesetzentwurf vorsieht, betrifft die Zuständigkeiten. Wir wollen die Zuständigkeit für die Flüchtlingsaufnahme vom Innenministerium in das für Migration und Integration zuständige Ministerium verschieben und damit weg vom ordnungsrechtlichen politischen Ansatz hin zu einem sozialpolitischen, integrativen Leitbild, das wir damit verbinden. Zahlreiche Bundesländer sind diesen Weg bereits gegangen. Damit verbunden wäre natürlich – Frau Köpping ist leider nicht da – zwingend die Aufwertung und angemessene Ausstattung des Integrationsministeriums.
Im Bereich der kommunalen Unterbringung wollen wir mit dem Gesetz einen Paradigmenwechsel einleiten. Der Blick in den Freistaat zeigt, dass es Landkreise und Kommunen gibt, die sich der Aufgabe engagiert zuwenden. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es einige gibt, die dieses Thema weiterhin stiefmütterlich behandeln. Wir plädieren mit unserem Gesetzentwurf für verbindliche landesweite Standards und Leitlinien. Die vorläufige Unterbringung in den Kommunen soll vorrangig in Wohnungen geschehen. Wenn Gemeinschaftsunterkünfte zum Zuge kommen, soll eine Kapazität von maximal 60 Plätzen nicht überschritten werden. Damit folgen wir einer Empfehlung des vormaligen Sächsischen Ausländerbeauftragten Martin Gillo. Unsere mit diesen Neuregelungen, die auch die Wohn- und Schlaffläche und die Dauer des Aufenthalts in der vorläufigen Unterbringung betreffen, verbundenen Ansinnen dürften auf der Hand liegen: Es geht um menschenwürdige integrative Unterbringung, die ein selbstbestimmtes Leben der hier ankommenden Menschen befördert. Trotz zunehmenden Bekenntnisses zu dezentraler Unterbringung sind die Zahlen in Sachsen immer noch schlecht und liegen bei knapp über 50 %. Es bleibt hier also einiges zu tun, und wir wissen, dass sich aus solchen Regelungen dann natürlich auch Planungs- und Finanzierungsregelungen ableiten, denen wir auch beikommen wollen.
Das ist dann auch der letzte, dritte und entscheidende Knackpunkt unseres Entwurfs: die Finanzierungsfrage. Es sind die Kommunen, in denen die Geflüchteten schlussendlich ankommen, wo sie für eine längere Dauer leben, wo ihnen Betreuung, Begleitung, Teilhabemöglichkeiten zukommen sollten. Dies kann nur geleistet werden, wenn der Freistaat diese Aufgabe endlich auskömmlich finanziert. Wir wissen, dass es nicht so ist. Selbst unser eigener Haushaltsantrag von 2015, mit dem wir die Pauschale, die jetzt im Gesetz vorgesehen ist, auf 9 000 Euro erhöhen wollten – es ist dann eine Einigung auf 7 600 Euro erfolgt -, ist längst überholt. Soziale Betreuung, Investitionen, Sicherheitsmaßnahmen, Gesundheitsleistungen und andere integrative Maßnahmen belasten die kommunalen Haushalte. Die Stadt Leipzig zum Beispiel rechnet 2016 mit 50 Millionen Euro Mehrausgaben, die nicht über die Landesfinanzierung erstattet werden. Wir möchten mit unserem Gesetzentwurf einen Switch von der Pauschallösung zur Spitzabrechnung bewirken, zumindest für einen Zeitraum von zwei Jahren. Danach wollen wir auf Grundlage der beobachteten Finanzierungsflüsse zurück zu einer Pauschallösung, die aber auf einem realistischen Niveau, einem zeitgemäßen Niveau beruht.
Summa summarum, unser Gesetzentwurf folgt dem Leitbild von Integration und Teilhabe vom ersten Tag an. Er soll verbindliche Strukturen schaffen, Rechtsansprüche auf integrative Maßnahmen und Teilhabe gewähren und die Kommunen stärken. Uns ist bewusst: Die grundlegende Reform der Flüchtlingsaufnahme kann nur der erste Schritt sein. Es müssen ganz viele weitere Schritte folgen. Trotzdem wollen wir an dieser Stelle den Grundsatzappell an Sie richten: Wir müssen uns zu einer offenen, einer Einwanderungsgesellschaft bekennen. Dem muss auch in Gesetzen Ausdruck verliehen werden – Gesetzen, die sich zum großen Teil noch an Abschottung und Ausgrenzung orientieren. Wir hoffen auf eine offene, kontroverse und gute Diskussion in den Ausschüssen. Ich danke Ihnen.