Review des Jahres 2015. Geschrieben für ein Fussballfan-Heft.
Diese Jahr lässt sich eigentlich fast nur mit einem Wortpaar kommentieren: Rassistische Kackscheiße. Täglich finden inzwischen an verschiedenen Orten Sachsens Aufmärsche gegen Geflüchtete statt. 121 Brandanschläge und zig weitere Angriffe gab es auf Asylunterkünfte. Zwei Asylrechtsverschärfungen sind von CDU und SPD, zum Teil mit Unterstützung der Grünen, durch den Bundestag gebracht worden, eine weitere ist in der Pipeline. Kaltland ist das geflügelte Wort zur Beschreibung dieser Zustände geworden. Ohnmacht macht sich breit.
Auch Leipzig ist und bleibt keine Insel der Glücksseeligen im tiefschwarzen Sachsen. Rassistische Wutbürger*innen, Naziangriffe, Bedrohungen und Einschüchterungsversuche gegen Engagierte häufen sich. Seit Januar 2015 marschiert zudem fast wöchentlich der Leipziger Ableger von Pegida. Folgten zu Beginn der Aufmärsche der Rassist*innen, Querfrontler*innen und Neonazis noch zehntausende Menschen dem Protest, minimiert sich die Zahl zunehmend.
Auch aus den Reihe der Fußballvereine gab es im Januar das Ansinnen sich klar und deutlich gegen Legida zu positionieren. Während RB seinen Fans jedoch untersagte entsprechende Spruchbänder im Stadion zu zeigen, war für Chemiker*innen klar, dass sie „keinen Bock auf Nazi- und Rassistenscheiße“ haben. Die Diablos riefen zur Beteiligung an Protesten auf. Dies war auch deswegen wichtig, weil sich der ehemalige „Führer“ von Legida, Silvio Rösler, damit rühmte in seiner Jugend bei „der echten“ Chemie gespielt zu haben.
Mit den kontinuierlichen Projekten für und mit Geflüchteten und antifaschistischer Bildungsarbeit ist Chemie für Rösler und Co nicht erst seit gestern das falsche Umfeld.
Dass allerdings auch unter den Chemie-Fans nicht alles glatt läuft, zeigen nicht nur gelegentliche unterirdische Aussprüche im AKS, sondern auch ein Aufruf des Vorstandes im August diesen Jahres, mit dem Fans aufgefordert wurden menschenfeindliche, rassistische Posts zu unterlassen. Diese würden „in keiner Weise den Werten entsprechen, die wir vertreten“. Mit dem Twitter-Account „Chemiefanforum“ musste ich selbst mir in diesem Jahr des Öfteren Battles liefern, wenn dieser wieder mal Stimmung gegen Muslime machte oder sich gegen die Unterbringung von Geflüchteten in Wohngebieten aussprach.
Dass der gesellschaftliche Zeitgeist nicht vor dem Stadion Halt macht ist hinlänglich bekannt. So wurden auch im „Saubermann-Verein“ RB im Laufe des Jahres verbale Ausfälle aus den Fanreihen thematisiert. Bei Lok stach die Eskalation im Erfurter Steigerwaldstadion hervor. Dass unter denen, die das Spielfeld stürmten, auch bekannte Nazis waren, ist wenig überraschend. Auch Chemie war mit ungeliebten Gästen konfrontiert: im Oktober mit Hitler-Grüßen und „Juden-Schweine“-Rufen aus dem Riesaer Gästeblock, im November mit offensichtlich neonazistisch orientierten Fans aus Chemnitz. Dass es hier klarer Kante bedarf – genau wie auf der Straße – muss an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.
Bleibt die Frage der Gewalt, die in diesem Jahr insbesondere in Leipzig exzessiv, dabei allerdings sehr eindimensional geführt wurde. Ob der Angriff auf den Polizeiposten in Connewitz, die „Khaled-Sponti“, Angriffe auf Gerichtsgebäude oder Ausländerbehörde oder eine „Sponti“ am Johannapark: Mehrfach wurden die bekannten Distanzierungs-, Verurteilungs- und „keine Toleranz“-Sprüche von offiziellen Vertreter_innen der Landesregierung und Politiker_innen hoch und runter gebetet. Leipzigs Oberbürgermeister schoss den „Antiextremismus“-Vogel mit seinem Ausspruch, dass Leipzig „weder einen schwarzen Block“ noch einen „brauner Mob“ brauche ab.
Dass die Staatsgewalt selbst ordentlich über die Stränge schlägt oder einzelne Polizist*innen Kontakte mit Nazis pflegen, erfuhr dagegen weitaus weniger Aufregung. Bekanntermaßen sind Fußball-Fans und Demonstrierende die Lieblingszielgruppe von Polizeiwillkür und -gewalt. Das mussten sowohl Chemiker*innen auch als Antifaschist*innen auf der Straße auch in diesem Jahr wieder erleben. Während die Polizei bei den progromartigen Ausbrüchen gegen den Einzug von Geflüchteten im August in Heidenau untätig blieb, während Rassist*innen in Sachsen inzwischen unbehelligt Unterkünfte blockieren oder aufmarschieren können, müssen wir (nicht nur) in Leipzig insbesondere bei antifaschistischen Protesten wahrliche „Polizeifestspiele“ erleben. Der Gipfel dürfte der Einsatz beim 2. Legida-Aufmarsch gewesen sein: 5100 Beamt*innen waren im Einsatz, verhinderten effektive Proteste und den Zugang zu angemeldeten Protestversammlungen, konnten – oder wollten? – jedoch Übergriffe auf Journalist*innen aus der Teilnehmer*innenschaft von Legida genauso wenig unterbinden wie massenhafte Vermummungen und sonstigen Ausfälle der mitlaufenden Nazi-Hools.
Ob brutale Räumungen von friedlichen Blockaden, Kessel mit massenhaften Identitätsfeststellungsmaßnahmen, Handy- und Laptop-Beschlagnahmungen im großen Stil: Die Bilanz der Repression im Jahr 2015 ist ernüchternd. Für Chemiker*innen dürften die Szenerie nicht nur aus den vergangenen Jahren bekannt sein. Erst kürzlich gab es nach dem Spiel in Heidenau einen massiven Polizeieinsatz mit Pfefferspray, Knüppel und Fäusten gegen Fans.
2015 hat die krassesten Negativ-Erwartungen übertroffen. Doch es gab auch kleine Lichtblicke wie die Verhinderung der Verlegung von etwa fünfzig Geflüchteten aus Connewitz nach Heidenau, selbstorganisierte Refugee-Proteste gegen die unterträglichen Aufnahmebedingungen, einige erfolgreiche Blockaden von Rassist*innen- und Naziaufmärschen, (junge) Leute, die Bock auf Antifa haben, bundesweite berechtigte Shit-Storms gegen Sachsen und insbesondere seinen Innenminister.
Entmutigung ist nicht angesagt, Wegschauen und Abstumpfen die schlechtesten Alternativen. Es ist die Wut über die Zustände, die zur Quelle von Widerstand, die Motor für Selbstermächtigung werden kann. „ Unsere Herzen brennen.“ (FSF)
Dezember 2015