Zum 1. Januar 2016 soll die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bundesweit neu geregelt werden. Nach Sachsen würden mit dem neuen Verteilungsmechanismus erheblich mehr dieser besonders schutzbedürftigen jungen Menschen kommen. Doch der Freistaat ist darauf nicht vorbereitet und die Sozialministerin sitzt die Herausforderung bisher aus.
In der Landtagssitzung am 9. Juli 2015 wurde ein Antrag der Linksfraktion „Vorkehrungen für die Aufnahme einer zunehmenden Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Sachsen treffen“ verhandelt… und (wie immer) abgelehnt.
Zum Antrag der LINKEN (hier klicken) hat zuerst meine Kollegin Annekatrin Klepsch gesprochen (Rede als pdf). Ich habe mit einer Rede ergänzt:
Es gilt das gesprochene Wort!
Anrede //
Meine Kollegin Anne Klepsch hat bereits zum Problem eingeführt und unsere Erwartungen an die Staatsregierung dargelegt. Ich möchte noch grundsätzliches zur Neuregelung auch aus Sicht der betroffenen Jugendlichen ergänzen.
Fachverbände aus Jugendhilfe und Flüchtlingsarbeit würdigen die Fortschritte, die in den letzten Jahren bei Aufnahme, Betreuung und Versorgung von Unbegleiteten Minderjährigen Flüchtlingen (UMF) eingetreten sind. So ist das Kindeswohl zur Maßschnur des Umgangs mit den jungen Menschen geworden, unabhängig von Aufenthaltsstatus und Perspektiven auf eine Anerkennung als asylsuchend oder Flüchtling. Defizite werden weit er vor allem in der Alterserkennung, mit der die Jugendlichen oft älter gemacht werden, und im Zugang zu Bildung gesehen.
Die auf Bundesebene diskutierte Änderung des Verfahrens stellt eine quotenbasierte Verteilung der UMF in den Mittelpunkt und droht das Primat des Kindeswohls wieder in den Hintergrund zu schieben. Dies lehnen wir als Linke ab. Wir wollen keine statische Verschickung von Jugendlichen in irgendwelche Regionen in Deutschland, die eben keine Erfahrungen damit haben und wo junge Menschen auch gar nicht hinwollen. Aber wir werden mit der Situation umgehen müssen. Am 15. Juli berät das Bundeskabinett über den Gesetzentwurf und wir können davon ausgehen, dass er zum Jahresbeginn 2016 in Kraft tritt.
Derzeit leben in der BRD zirka 18.000 UMF, in Sachsen sind es nur etwa 250. Hauptherkunftsländer sind Afghanistan, Irak, Syrien, Eritrea oder Somalia. Als Fluchtgründe gelten vorrangig Kriege und bewaffnete Konflikte, der Einsatz von Kindern als Kindersoldaten oder Gewalt im familiären Umfeld.
Es sind eritreische junge Männer, die sich dem Militärdienst entzogen haben und denen darum schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Oder junge Leute aus dem Iran, die wegen oppositioneller Betätigung inhaftiert waren und dem durch Flucht entkommen sind.
Wir sind uns in diesem Hohen Hause wohl einig, dass es insbesondere Kinder und Jugendliche sind, die unter Missständen in ihren Herkunftsländern leiden… dass es sich um eine besonders verletzliche Personengruppe handelt. Dies würdigen auch internationale Übereinkommen und nationale Regelungen wie das Menschenrechtsabkommen, die Europäische Menschenrechtskonvention, die Genfer Flüchtlingskonvention, die EU- Aufnahmerichtlinie und seit 2010 mit der Rücknahme der ausländerrechtlichen Vorbehalte der Bundesregierung auch die UN-Kinderrechtskonvention.
In diesem Sinne hat das Kindeswohl – in der UN Kinderrechtskonvention besser als „best interest of the child“ beschrieben – bei allen behördlichen Entscheidungen Vorrang.
Ein erhebliches Problem haben bis dato die UMF zwischen 16 und 18 Jahren, die auch den größten Anteil der Personengruppe stellen. Neben zweifelhaften Altersfeststellungen sind sie mit der einer rechtlich widersprüchlichen Situation konfrontiert. Denn das Asylrecht kollidiert mit Regelungen der UN-Kinderrechtskonvention. Laut dem Asylverfahrensgesetz ist eine Person ab dem 16. Lebensjahr rechtlich handlungsfähig. Für sie entfallen so eigentlich garantierte Schutzmechanismen, wie die Bestellung eines Vormundes, die Unterbringung in Jugendhilfeeinrichtungen oder eine kompetente Begleitung im Asylverfahren, so angestrebt. In Sachsen waren 70 % der 2013 eingereisten UMF über 16 Jahre alt, ein Teil von ihnen verblieb in der EAE in Chemnitz, trotzdem dort gerade für sie keine zumutbaren Lebensbedingungen herrschen.
Mit ihrem Gesetzesentwurf will die Bundesregierung zumindest diese disharmonischen Regelung ändern und die Altersgrenzen im ausländerrechtlichen Verfahren anheben. Das ist richtig, denn es gibt nur eine Minderjährigkeit. Schade, dass die Staatsregierung gerade diese von vielen Fachverbänden begrüßte Neuregelung ablehnt. Sie ist fast alles, was an dem Entwurf grundsätzlich für gut befunden werden kann.
Das neue Verteilsystem ist weder im Sinne der Betroffenen Kinder und Jugendlichen noch im Sinne der Kommunen als örtliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe.
Um es an dieser Stelle plastisch zu machen: Bisher werden die UMF dort in Obhut genommen, wo sie aufschlagen. Dort bekommen sie einen Vormund zur Seite gestellt, werden im besten Fall in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht und nach einem Clearingverfahren, das neben aufenthaltsrechtlichen Perspektiven das Maß der Traumatisierung und Unterstützungsbedarfe eruiert, Anschlusshilfen gewährt. Mit dem neuen Entwurf soll das zentrale Clearingverfahren verschoben werden: Sie sollen weiterhin am Ort des Aufgriffs in Obhut genommen werden, dort innerhalb einer Woche jedoch lediglich erstversorgt und einer Kindeswohlprüfung unterzogen werden. Nach 2 Wochen ist dann eine Verteilung laut Quote vorgesehen. Erst dann werden ein Vormund bestellt und das eigentliche Clearingverfahren durchgeführt, dann also wenn das zur Aufnahme ausgewählte Land schon festgelegt wurde. Dann folgt die Verteilung an ein geeignetes Jugendamt und die finale Unterbringung. Bis der Prozess abgeschlossen ist, ist ein Monat und viel Stress für die minderjährige Person ins Land gegangen.
Mit dieser Verkomplizierung und Verlängerungen wird das Primat des Kindeswohls unterlaufen, zudem sind die Beteiligungsrechte der Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend gewahrt.
Doch: Wenn wir den Grundsatzcharakter der angestrebten Neuregelung nicht verändern können, müssen wir uns als Land zumindest adäquat vorbereiten. Unser Antrag macht Vorschläge diese notwendigen Vorkehrungen zu treffen. In diesem Sinne: Richten Sie ein Kompetenzzentrum ein, greifen sie den Kommunen unter die Arme und fordern sie beim Bund adäquate finanzielle Unterstützung für die neue Aufgabe.
Aus dem Schlusswort:
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Eigentlich haben ich und meine Fraktion den Eindruck, dass die Debatte in die Richtung ging, dass unser Antrag tatsächlich zur rechten Zeit kommt – die Mitte zwischen zu spät und zu früh – und dass nichts entgegensteht, diesem Antrag zu folgen, um den Prozess – das ist eine wichtige Forderung, die wir immer stellen – auch als Landtag zu flankieren. Es nützt uns nichts, wenn das in Ihrem Ministerium, dass natürlich federführend ist, passiert, aber wir wollen einbezogen werden und mit sprechen.
Ich will noch eine Anregung in die Debatte bringen: Es gibt schon länger stapelweise Stellungnahmen zu diesem Gesetzentwurf, und diese Stapel wachsen auch. Der Bundesverband Erziehungshilfen schlägt vor – das zieht auch ein Thema, das wir schon gestern hatten, nach sich -, ein Konzept vorzulegen. Sie nennen es „Jugendhilfegerechtes Aufnahme- und Integrationskonzept für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“. Das könnte ein Bestandteil einer Unterbringungs- und sonstigen Konzeption des Freistaates sein, die wir ja noch nicht haben.
Vielen Dank.
* Bildquelle: Straßenaktion von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, 2014, rummelsberger-diakonie.de