
Doch nun zum zweiten Tag: Endlich richtig angekommen, jedoch erneut nächtlicher Luftalarm und auch zweimal am Tag, während wir unterwegs sind.
Wir knüpfen an die gestrigen Gespräche an: Wir wollen zuhören und die Kraft der ukrainischen Zivilgesellschaft erkunden.
Zunächst erleben wir einen Parforceritt durch die historischen Wunden der Ukraine: das Denkmal des Unbekannten Soldaten mit ewiger Flamme in Gedenken an den 2. Weltkrieg, das Holodomor-Museum, das Höhlenkloster (dessen Grund und Boden vom ukrainischen Staat aufgrund der vermeintlichen Nähe zum Moskauer Patriarchat beschlagnahmt wurde), die mächtige Statue „Mutter Ukraine“ (die in einer Hand das Wappen der Ukraine trägt, das erst 2023 nach einem Referendum das sowjetische Symbol ersetzte) sowie imposante Monumente und die „Allee der Heldenstädte“ im Gedenken an die sowjetischen Verdienste beim Sieg über das nationalsozialistische Deutschland. Allein die erinnerungskulturellen Herausforderungen vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs böten Stoff für ausführliche Reflexionen.
Weiter geht es mit dem Besuch bei Shid SOS, einer großen Nichtregierungsorganisation, die essenzielle humanitäre Hilfe leistet. Die seit 2022 von 30 auf 230 Mitarbeitende gewachsene Organisation evakuiert Menschen – darunter auch Menschen mit Behinderungen – aus umkämpften und in Kooperation mit anderen NGOs auch aus besetzten Gebieten, hilft bei der Suche nach Zufluchtsorten, wandelt leerstehende Häuser in Unterkünfte um, versorgt Vertriebene und dokumentiert Kriegsverbrechen. Sie kooperiert mit Organisationen aus ganz Europa und evakuiert Menschen auch dorthin. Zudem gibt es Pilotprojekte für Kinder aus Krisenregionen, die so erstmals reguläre Schulen besuchen können. Denn: Wo Schulen keinen Schutzraum bieten, werden Kinder und Jugendliche in der Ukraine online unterrichtet. Seit 2022 hat Shid SOS 12.000 Menschen mit Behinderungen und insgesamt 88.000 Personen aus umkämpften und besetzten Gebieten evakuiert. Die NGO finanziert sich ausschließlich über Spenden. Durch die Einstellung des USAID-Programms geraten Organisationen wie Shid SOS in existenzielle Not, was die Menschen betrifft, die auf diese Unterstützung und Überlebenshilfe angewiesen sind. Alternative Spendenprogramme der EU und Großbritanniens decken den Bedarf bei Weitem nicht ab.. Shid SOS ist ein beeindruckendes Beispiel für die Kraft der ukrainischen Zivilgesellschaft: Menschen helfen anderen, obwohl Russland selbst vor dem Beschuss von humanitären Helfer*innen und Krankenwagen nicht zurückschreckt. Oxana, mit der wir sprechen, betont, dass auch nach Kriegsende immense Aufgaben anstehen: der Wiederaufbau der sozialen Infrastruktur, die Behandlung physischer und psychischer Verletzungen – ein Kraftakt. Bis dahin heißt es: Überleben und weiterleben.
Das nächste Treffen führt uns ins Büro von Sotsialny Rukh, der sozialen Bewegung. Im Gespräch mit Vitali und Deniz knüpfen wir an das an, was wir 2023 bereits kennengelernt haben: eine agile, linke Organisation, die sich auf die Verteidigung der Rechte von Arbeiter*innen konzentriert, politische Bildung organisiert und ein Ankerpunkt für jene ist, die sich als links verstehen. Das ist in der Ukraine nicht selbstverständlich, da der Staatssozialismus sowjetischer Prägung tiefe Spuren hinterlassen hat. Es gibt eine große Distanz zu politisch-weltanschaulichen Strömungen, insbesondere zur politischen Linken. Parteien wie die Kommunistische und die Sozialistische Partei der Ukraine entpuppten sich nicht nur als Steigbügelhalter Russlands, sondern auch als Vorfeld von Oligarchie und Korruption. Sotsialny Rukh hat überlegt, eine eigene demokratisch-sozialistische Partei zu gründen, doch die Hürden dafür sind hoch. Es gilt, weiterhin Vertrauen aufzubauen und linke Politik im Land gesellschaftsfähig zu machen. Vorläufer der Bewegung waren auch bei den Maidan-Protesten aktiv, konnten daraus jedoch keine linken Erfolge generieren. Sotsialny Rukh hat weiterhin etwa 100 Mitglieder, ist vor allem in Kyjiw, Krywyj Rih und Lwiw aktiv und verfügt über zahlreiche Kooperationen und Sympathisant*innen. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und der Verhinderung neoliberaler Reformen des Arbeitsrechts. Dieses wurde bereits nach Kriegsbeginn verschlechtert; Streik- und Demonstrationsrechte stehen in Kriegszeiten stark unter Druck. Ein Gesetzesentwurf zur weiteren Einschränkung von Beschäftigtenrechten liegt in der Schublade, trifft jedoch auf so massiven Widerstand – auch von etablierten Gewerkschaften –, dass er bisher nicht umgesetzt wurde.
Derzeit gerät die Zwangsrekrutierung von Männern zwischen 25 und 60 Jahren auch in Deutschland zunehmend in den kritischen Fokus. Auch Mitglieder von Sotsialny Rukh kämpfen im Krieg, freiwillig oder unfreiwillig. Dass die Ukraine verteidigt werden muss, steht für die Aktiven außer Frage. Die Rekrutierungspraxis muss laut ihnen jedoch humaner gestaltet werden: Es braucht dringend eine zeitliche Begrenzung der Einsatzzeit und Lohngarantien für eingezogene Beschäftigte. Zudem zeigt sich die Macht des Neoliberalismus auch in der Rekrutierungspraxis: Manager und Unternehmenschefs werden oft ausgespart.
Nicht zuletzt geht es um die EU-Beitrittsperspektive der Ukraine, die auch bei Sotsialny Rukh kontrovers diskutiert wird. Die EU wird – wie in vielen linken Kontexten – kritisch betrachtet, insbesondere wegen ihrer demokratischen Defizite und ihres Fokus auf kapitalistische Prinzipien. „Schlechter als in der Ukraine mit dem Primat von Privatisierung und Oligarchentum kann die EU kaum sein“, meint Vitali Dudin, der als Jurist Menschen bei der Durchsetzung ihrer Arbeiter*innenrechte unterstützt. Der EU-Beitritt könnte die Basis für Kämpfe um soziale Rechte und Demokratie erweitern – und dafür tragen auch wir als westeuropäische Linke Verantwortung.
Kurz bleibt noch Zeit mit den jungen Aktivst*innen von Direct Action zu sprechen, eine Studierenden-Gewerkschaft, die im gesamten Land für freie Bildung und gegen neoliberale Bildungsreformen aktiv ist. Ein Erfolg ihre Arbeit war unter anderem der Erhalt der Krim-Universität im Exil, die vom Bildungsministerium geschlossen werden sollte.