Am 27.09.2017 stand im sächsischen Landtag ein Antrag der Grünen zur Debatte und Abstimmung, endlich die Abschiebungen nach Afghanistan zu beenden. Der Antrag wurde v.a. von den Regierungsfraktionen SPD und CDU (und natürlich von der AfD, bzw. was von ihr übrig ist) abgelehnt.
Auch unsere, die Linksfraktion im sächsischen Landtag, hatte vor einem halben Jahr einen ganz ähnlichen Antrag schon einmal eingebracht [hier nachlesen]
An dieser Stelle ist meine aktuelle Rede dokumentiert:
Anrede
Am 31. Mai 2017 kamen bei einem mutmaßlichen Selbstmordanschlag in der afghanischen Hauptstadt Kabul bis zu 150 Menschen ums Leben, hunderte weitere wurden verletzt. Dabei wurde die deutsche Botschaft so stark beschädigt, dass sie geschlossen werden und der Botschafter in die US-amerikanische umziehen musste. Perfiderweise mit der Begründung, dass die Botschaft nicht arbeitsfähig sei, wurde eine für denselben Tag geplante Sammelabschiebung abgesagt. Wir wissen, dass infolgedessen zudem die Abschiebungen in das Land eingeschränkt wurden. Nur noch straffällige Geflüchtete, sogenannte „Gefährder“, und solche, die gegen die „Mitwirkungspflichten“ bei der Identitätsfeststellung verstoßen, sollten ab diesem Zeitpunkt abgeschoben werden. Zudem ging die Bundesregierung auf die lange erhobene Forderung nach einer Neubewertung der Sicherheitslage ein. So weit so gut.
Ich kann mich noch genau an diesen 31.5. erinnern. Afghanische Geflüchtete hatten in Leipzig eine Demo in Gedenken an die Opfer des Terroranschlages organisiert, als die Nachricht vom neuen Umgang der Bundesregierung eintraf. Zunächst war die Erleichterung groß. Schnell kam jedoch Skepsis auf. Wie bestimmt sich die Zielgruppe der eingeschränkten Abschiebungen wirklich, auf Basis welcher Analysen wird die Sicherheitslage neu eingeschätzt? Handelt es sich vielleicht nur um ein wahltaktisches Manöver? Denn: Die Abschiebungen nach Afghanistan waren und sind gesellschaftlich hoch umstritten, selbst in SPD und CDU traten bundesweit skeptische Stimmen zutage.
Auf Ende Juli datiert eine Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes, die erst im späten August auch öffentlich diskutiert, aber niemals veröffentlicht wurde. Das Fazit des Bundesinnenministeriums ist recht einfach: Es gab auch in diesem Zwischenbericht keine „durchschlagenden Anhaltspunkte dafür, dass die Haltung der Bundesregierung in Fragen der Rückführung von afghanischen Staatsangehörigen korrigiert werden“ müsste.
Und genau dieses Fazit ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die aus ihrem Land fliehen mussten oder noch in Afghanistan leben. Ich frage sie Herr Ulbig, der sie ja Vorsitzender der IMK sind: Wie viele Menschen sollen noch sterben, verletzt und vertrieben werden, bis die Bundesrepublik diesen Wahnsinn stoppt? Haben die benannten Ausnahmegruppen, die die Grünen in ihrem Antrag auch abfragen, weniger Recht auf Leben als andere Menschen? Ist es nicht vernünftiger, tatsächliche StraftäterInnen oder die, die den Rechtsstaat erheblich gefährden sollen, hier zu bestrafen anstatt sie in die Freiheit oder in den Bombenhagel zu entlassen?
Reihenweise werden Asylanträge von aus Afghanistan Geflüchteten abgelehnt. Lag die Schutzquote im Jahr 2015 noch bei fast 80 %, war sie im 1. Halbjahr 2017 auf 44 % gesunken. Die reihenweise Ablehnung der Asylanträge von Afghan*innen basiert auf einer fragwürdigen Sicherheitseinschätzung. Ganz wie die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Bärbel Köfler sagte: Nicht die Lage in Afghanistan hat sich verändert, sondern die innenpolitische Diskussion.
Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zeigt sich vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Sicherheitslage überrascht über die Entscheidungspraxis des BAMF. Ich zitiere aus einem Schreiben an das BMI aus dem Dezember 2016:
„Ein pauschalisierender Ansatz, der bestimmte Regionen hinsichtlich der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen, wie sie für den Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz relevant sind, als sichere und zumutbare Schutzalternative ansieht, ist nach Auffassung des UNHCR vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Afghanistan nicht möglich“.
Wir sind als LINKE auch sechs Monate, nachdem unser eigener Antrag für einen Abschiebestopp nach Afghanistan hier im Landtagsplenum abgelehnt wurde, der Meinung, dass Afghanistan nicht sicher ist. Dies ist keine Gefühlssache und entspringt nicht in erster Linie unserer grundsätzlich anderen Position zu Migrations- und Asylpolitik. Nein, dies belegen die knallharten Zahlen und Analysen, u.a. der UN Mission UNAMA, des Afghanistan-Sondergesandten der UNO, dem UNHCR, zahlreichen NGO und auch den Erfahrungsberichten der Menschen, die aus Angst um ihr Leben von dort flüchten mussten.
Zwischen Anfang Januar und Ende Juni wurden laut UN-Mission UNAMA bei Gefechten und Anschlägen 1.662 Zivilisten getötet und 3.581 weitere verletzt. Darunter wiederum eine hohe Zahl an Kindern: 436 Kinder starben durch Bomben, Minen oder bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Taliban – neun Prozent mehr als in der ersten Jahreshälfte des vergangenen Jahres. Insgesamt wird die Dunkelziffer an Todesopfern als hoch eingeschätzt.
Der Krieg (wie soll man das anders nennen?) durchdringe inzwischen „alle vorstellbaren Alltagssituationen“ der Menschen, so der UN-Halbjahresbericht. Zivilist*innen seien getötet oder verletzt worden, während sie zu Hause, auf Reisen, in der Schule, in der Moschee, beim Einkaufen, beim Spielen, bei der Arbeit im Büro oder auf dem Feld, beim Bankbesuch oder im Krankenhaus gewesen seien. Nein Sicherheit sieht anders aus.
Und ich empfehle einfach mal im Netz die Nachrichten über Anschläge in Afghanistan nachzuschauen. Immer wieder rückt dabei die Hauptstadt Kabul in den Fokus, zeitweise gab es in der jüngeren Vergangenheit Anschläge im Tagestakt. Aufgrund der hohen Binnenflüchtlingszahlen herrscht in der Stadt zudem akute Armut und Obdachlosigkeit. So sieht also einer der Orte aus, den die Bundesregierung als sicher klassifiziert. Pro Asyl schreibt in seiner Bewertung des Zwischenlageberichts der Bundesregierung:
„Der Bericht liest sich wie ein Militärbericht mit einer Aufzählung diverser Anschläge und Attentaten, der die Bedrohung der Zivilbevölkerung durch diese Angriffe als auch durch weitere Gefahrenquellen verkennt.“
Hier klingt im Hintergrund noch das Echo der zutiefst menschenverachtenden Kollateralschäden-Äußerung des Bundesinnenministers De Maiziere, wonach ZivilistInnen zwar Opfer, aber keine Ziele von Anschlägen seien. Als ob das einen Unterschied macht, als wenn das Leben unter den Taliban oder der IS-Herrschaft nicht genug Grund für eine Flucht sein kann. Der aus Afghanistan geflüchtete Journalist Ramin Mohabat sagt dazu:
„Wenn du nicht aufmuckst und machst, was die Taliban sagen, dann drohen sie einem nicht. Die Taliban suchen sich die jungen Leute, sie brauchen sie für die Kämpfe. Sie gehen in die Moscheen und rekrutieren sie. Wenn du nicht mitmachst, schicken sie zuerst einen Brief. Darin wird der Person gedroht, damit sie für die Taliban arbeitet. Wenn du dich weigerst, setzen sie dich noch mehr unter Druck.“
Die Sicherheitskräfte können für den Schutz der Bevölkerung nicht garantieren, sie sind selbst Ziel der Angriffe oder Taliban-durchsetzt.
Zahlen und Belege für die fragile Sicherheitssituation ließen sich hier endlos fortsetzen. Und natürlich: Wir in Sachsen sind nicht die richtige Adresse, Lageeinschätzungen für Afghanistan vorzunehmen. Wir haben aber als Abgeordnete ein Recht auf Information. Und wir können und müssen die Stimme erheben, wenn der Bund grob fahrlässig agiert, wie es der geheim gehaltene Bericht des Auswärtigen Amtes tut, indem er fundierte Sicherheitsanalysen außer Acht lässt.
Nein Herr Ulbig, die konsequente Aussetzung von Abschiebungen nach Afghanistan wäre genau jetzt zielführend und das politisch richtige Signal. Vor allem vor dem Hintergrund der durch den Wahlausgang zutage tretenden Einstellungen in der Bevölkerung genau dieses Freistaates. Hören sie auf, Menschen in Gefahrensituationen zur Verhandlungsmasse zu machen oder für das Fischen am rechten Rand zu instrumentalisieren. Es bringt ihnen eh nichts.
Die konsequente Aussetzung von Abschiebungen wäre ein wichtiges Signal an die aus Afghanistan Geflüchteten, die noch immer in Angst vor Abschiebungen leben, und nicht zuletzt als Signal an die Unterstützerinnen und Unterstützer der Geflüchteten, die sich auch in Sachsen weiterhin aufopferungsvoll engagieren und für die Integration der neu zu uns gekommenen Menschen arbeiten.
Ich zitiere zum Schluss aus einer Mail eines Kirchenvorstehers aus Sachsen, die uns nach der Landtagsdebatte zum LINKE-Antrag für einen Abschiebestopp nach Afghanistan erreichte:
„Momentan liegt uns besonders das Schicksal mehrerer junger Afghanen am Herzen, die voller Angst sind, weil ihnen die Abschiebung droht. Unsere ehrenamtliche Arbeit wurde in den letzten Monaten immer wieder gewürdigt. Aber wir können diese Wertschätzung nur dann als ehrlich annehmen, wenn wir auch Gehör finden, und wenn gleichzeitig auch die Menschen anerkannt werden, für die wir uns einsetzen. Momentan schäme ich mich für unser reiches Deutschland und für die menschenfeindlichen Entscheidungen, die bei uns getroffen werden.“
Nehmen Sie sich ein Herz und stimmen sie dem Antrag der Grünen zu. Wir werden es tun.