Die Initiative „Leipzig korrektiv“, zu der neben Richard Gauch und Stephan Bosch auch ich gehöre, erinnert in einer Pressemitteilung an den Genozid an den Sinti & Roma im NS und kritisiert vor diesem Hintergrund die aktuelle (Asyl)Politik. Historische Verantwortung muss praktisch werden!
Am 2. August 2016 jährt sich zum 72. Mal die gewaltsame Auflösung des so bezeichneten
„Zigeunerlagers“ innerhalb des Vernichtungslagers Auschwitz. In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden in diesem Zuge fast 3000 Sinti und Roma massakriert. Der Abschnitt B II e war im Februar 1943 auf Geheiss Heinrich Himmlers eingerichtet worden.
Über 22.000 Sinti und Roma vor allem aus Deutschland, Österreich und Tschechien wurden dorthin deportiert. Die allermeisten von ihnen fanden einen qualvollen Tod – ob durch die furchtbaren Lebensbedingungen, durch medizinische Experimente oder in den Gaskammern.
Insgesamt fielen rund eine halbe Millionen Sinti und Roma den Nationalsozialisten zum Opfer.
Auch aus Leipzig wurden zirka 280 Sinti und Roma deportiert, nur fünf von ihnen überlebten den Genozid. Seit 2003 erinnert daran ein Denkmal am Schwanenteich. In den vorangegangenen Jahren gab es auf Initiative von „Leipzig korrektiv“ dort Gedenkveranstaltungen.
Lange mussten Sinti und Roma auf die Anerkennung des im 2. Weltkriegs verursachten Leides warten. Erst 1982 erkannte die Bundesregierung den Genozid an Europas größter Minderheit an. Diese Anerkennung verblieb auf einer symbolischen Ebene und hatte kaum rechtliche Folgen.
Auch heute sind Sinti und Roma in ganz Europa Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt.
Wie die im Juni 2016 erschienene Mitte-Studie hervorhebt, hegt die hiesige Bevölkerung besonders negative Stereotype gegenüber Sinti und Roma. Fast 58 % hätten Probleme damit, „wenn sich Sinti und Roma in ihrer Nähe aufhalten“, über 58 % stimmen der Aussage „Sinti und Roma neigen zu Kriminalität“ zu.
In den Westbalkan-Staaten leben Roma in krasser Armut, sind beim Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheitsleistungen benachteiligt und einer krassen gesellschaftlichen und politischen Diskrimierung ausgesetzt.Im Rahmen einer Bildungsreise des Vereins „Verantwortung für Flüchtlinge“ im Juli diesen Jahres konnten wir die Lebensverhältnisse von Roma im Kosovo, in Montenegro und Mazedonien in Augenschein nehmen und waren schockiert. Viele von den in Slum-ähnlichen Wohngebieten lebenden sind aus Deutschland abgeschoben worden. (zum Reisebericht) Durch die Erklärung mittlerweile aller Westbalkan-Staaten zu so genannten „sicheren Herkunftsstaaten“ ist es für die Betroffenen nahezu unmöglich geworden in Deutschland Schutz und ein würdevolles Leben zu finden. Viele der Abgeschobenen wurden in Deutschland geboren. Eine Perspektive finden sie in den Staaten des Westbalkan nicht.
Mit ihrer Politik zeigt die Bundesrepublik, dass sie nichts aus der Geschichte gelernt hat. Denn vor allem in Deutschland erwächst aus dem nationalsozialistischen Genozid an Sinti und Roma eine große Verantwortung, die sich nicht nur in einer würdigen Erinnerungskultur und einem entschiedenen Vorgehen gegen Rassismus (nicht nur) gegen Sinti und Roma niederschlagen muss. Notwendig ist ein Bleiberecht für alle sich in Deutschland aufhaltenden Roma und die aktive Mitwirkung der Bundesrepublik an der Verbesserung der Lebenssituation von Roma in ihren Herkunftsländern.
Vor diesem Hintergrund kann der Umgang der hiesigen Ausländerbehörde mit dem Anliegen von Roma-Jugendlichen aus Leipzig, eine internationale Gedenkveranstaltung aus Anlass des Genozids an den Sinti und Roma im NS zu besuchen, nur als skandalös bezeichnet werden. Fünf Jugendliche aus Leipzig waren zu einer vom internationalen Roma Jugendnetzwerk TERNYPE und dem Dokumentations- und Kulturzentrum deutscher Sinti und Roma veranstalteten Tagungunter dem Titel „Dikh he na Bister” („Look and don’t forget“) eingeladen. Diese Veranstaltung findet in Krakau statt, eingeladen sind über 350 jungen Roma und Nicht-Roma aus ganz Europa, die auch an einem Gedenkakt am 2. August teilnehmen werden. Drei Leipziger Jugendliche werden der Einladung nicht folgen können, weil die Ausländerbehörde ihnen eine Reiseerlaubnis verwehrt hat, da sie lediglich geduldet sind. Trotz Bemühungen des Vereins Romano Sumnal, der sich u.a. mit einem Offenen Brief an den Leipziger Oberbürgermeister wandte, wurde in Leipzig keine Ausnahmeregelung gefunden.
Dies ist ein Armutszeugnis und zeigt, dass es keine praktische Konsequenzen aus dem Unrecht der Vergangenheit gibt.
PM 31. Juli 2016
Bildquelle: Besetzung des Mahnmals für ermordete Sinti & Roma in Berlin im Mai 2016, Non-commercial Share Alike Creative Commons license