
Unsere erste Gesprächspartnerin, eine Journalistin mit Schwerpunkt Sicherheitsfragen, eröffnet eine internationale Perspektive. Sie spricht über den russischen Informationskrieg, die Notwendigkeit, diesem entgegenzutreten – nicht allein mit Widerlegung von Falschinformationen sondern mit eigenen, positiven Erzählungen. Ebenfalls betonte sie die Notwendigkeit der Unabhängigkeit von Russland in energiepolitischen Fragen. Deutschland sei bezüglich der Einflußnahme, auch durch Agentinnen, bislang noch zu naiv. Gleichzeitig betont sie die Bedeutung der Phase nach einem möglichen Kriegsende: Es müsse genau im Blick bleiben, wohin Geldflüsse und Waffen in ukrainischen Händen dann fließen.
Den zweiten Gesprächspartner treffen wir auf der westlichen Seite des Dnepr: Viacheslav Lichachev, einen bekannten Historiker und Experten für die extreme Rechte. Er ist zudem Vorstand des Center for Civil Liberties, einer Menschenrechtsorganisation, die Kriegsverbrechen untersucht.
Bereits im Januar 2023 haben wir Vertreter*innen der Organisation getroffen. Viacheslav, genannt „Slava“, gibt Einblicke in die ukrainische Erinnerungspolitik und beschreibt, wie Russland die Geschichte umdeutet, indem es an seine durchaus verdienstvolle Rolle bei der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus anknüpft.
Am 9. Mai 2025 wird in Kyiv der 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus gefeiert, mit internationalen Gästen. An diesem Tag soll auch das Sondertribunal zur strafrechtlichen Verfolgung von Wladimir Putin und weiteren Verantwortlichen für Kriegsverbrechen in der Ukraine durch den Europarat eingerichtet werden. Das Sondertribunal soll eine Strafbarkeitslücke schließen: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ist für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig, doch beim politisch heiklen Tatbestand der Aggression – also des Angriffskriegs – sind ihm die Hände gebunden. Russland hat das Statut des IStGH nicht unterzeichnet, die Ukraine inzwischen schon. Ein Beschluss des UN-Sicherheitsrats oder der UN-Vollversammlung wäre möglich, jedoch politisch schwierig. Mit dem Sondertribunal überträgt die Ukraine die Strafverfolgung von Putin und seinen Unterstützer*innen an den Europarat, was in eine Anklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte münden könnte (mehr Infos: https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-russland-angriffskrieg-europarat-sondertribunal-lux.VyqKKjeFcb5bWuVAoQqtiw).
Die Symbolik des Sondertribunals und des Befreiungstages könnte in Deutschland Irritationen auslösen. Dennoch kann sie als Plädoyer für ein „Nie wieder“ gelesen werden. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine und die 14 weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken zur Befreiung Europas vom nationalsozialistischen Terror beigetragen haben. Die historischen Narrative sind jedoch ambivalent. In der Ukraine gab es mit der UPA und der OUN-B unter Stepan Bandera Kollaboration mit dem NS-Regime sowie Beteiligung an antisemitischen Pogromen. Gleichzeitig, so Lichachev, darf der Hitler-Stalin-Pakt nicht vergessen werden, der durch die Aufteilung Polens und die Annexion der baltischen Staaten sowie Teilen Rumäniens den Weg für Hitlers Eroberungszug ebnete. In der Ukraine ist das historische Erbe umstritten. Auf kommunaler Ebene gibt es Bestrebungen, Kollaborateurinnen wie Bandera als Kämpferinnen für die Unabhängigkeit umzudeuten, doch solche Debatten sind derzeit auf Eis gelegt.
Ein weiterer Fokus liegt auf der Umdeutung der Geschichte durch Putins Russland. Putin stellt den Krieg gegen die Ukraine als Kampf gegen den „Faschismus“ dar und diffamiert die EU als Unterstützerin des Faschismus. Seit 2020 verändert Russland seine historische Erzählung: Nicht mehr der Holocaust an Jüdinnen und Juden steht im Zentrum des größten Menschheitsverbrechens, sondern der „Holocaust an den Sowjets“. Dies zeigt sich etwa in Putins Rede zum 75. Holocaust-Gedenktag in Yad Vashem oder in Publikationen von Vertrauten wie der Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa.
Slava gibt Einblicke in die Transformation der russischen und ukrainischen Neonazi-Szenen, die sich im Kontext des Krieges neu formiert haben. Ein Großteil der russischen Neonazis habe sich trotz ihrer Gegnerschaft zum Staat entschieden, in der russischen Armee gegen die Ukraine und „den Westen“ zu kämpfen, oder sei gewaltsam dazu gezwungen worden. Der russische Staat habe ein instrumentelles Verhältnis zu Neonazis, die auch als „Kanonenfutter“ dienten. Andere Teile der Szene entschieden sich hingegen, in ukrainischen Einheiten zu kämpfen, um ihren Widerstand gegen das ihrer Ansicht nach korrupte russische System auszudrücken. Vor diesem Hintergrund sei die Zahl rechter und rassistischer Angriffe in Russland zurückgegangen.
Die ukrainische extreme Rechte, etwa Swoboda oder der Rechte Sektor, befinde sich bereits vor 2022 in einer Krise. Ihre Präsenz bei den Maidan-Protesten 2013/14 habe ihnen Auftrieb verschafft, insbesondere durch die Gegnerschaft zu Ex-Präsident Janukowytsch. Akteure der extrem rechten Swoboda waren 2014 Teil der Übergangsregierung nach dessen Sturz. Bei den Wahlen 2014 fielen sie jedoch unter die 5-Prozent-Hürde und konnten nur noch wenige Direktmandate in der ukrainischen Rada erringen. Selbst mit einer gemeinsamen Liste der extremen Rechten erzielten sie bei den Parlamentswahlen 2019 lediglich 2,4 Prozent. Unser Gesprächspartner sieht einen Grund darin, dass die Gegnerschaft zu Russland kein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten mehr sei und ihre Europafeindlichkeit in der ukrainischen Gesellschaft kaum noch Zustimmung finde. Auch ihre heroische Inszenierung als Kämpfer*innen im Krieg verpuffe zunehmend. Dennoch sei ihre Aggression gegen Minderheiten, wie die LGBTIQ-Community, nicht zu unterschätzen. Bereits bei unserem letzten Besuch hatte Sergey Movchan vom Solidarity Collective darauf hingewiesen, dass große politische Parteien rechte Narrative übernommen hätten, was ebenfalls die Schwächung der parlamentarischen Rechten erkläre. Ob und inwieweit rechte Einstellungen in der ukrainischen Gesellschaft verbreitet sind, sei ein eigenes Thema. Fest steht, dass Militär und Männlichkeitsbilder, besonders in Kriegszeiten, eine prägende Rolle spielen.

Taras betont, dass die Idee von Sotsialny Rukh, den Wehrdienst zeitlich zu begrenzen, schwierig umzusetzen ist: Woher sollen dann Soldatinnen kommen? Viele, die sich nach der großangelegten Invasion 2022 freiwillig meldeten, hätten dies angesichts der langen Kriegsdauer nicht getan. Zudem berichten viele von negativen Erfahrungen in der Armee. Ein Problem ist das Fehlen klarer Strukturen und Regeln sowie einer eigenen Militärgerichtsbarkeit, die in Streitfällen kompetent entscheiden könnte. Stattdessen bleibt vieles der Willkür von Kommandantinnen überlassen. 2022 wurde ein Gesetz erlassen, das Ungehorsam oder Desertion härter bestraft. Diese Fälle werden von überlasteten Zivilgerichten bearbeitet, die für militärische Angelegenheiten nicht spezialisiert sind. Das Gesetz stieß auf Widerstand von Menschenrechtsorganisationen.
Wir gehen mit Taras durch die Straßen Kyivs und sprechen über die Lage in der Armee, die gesellschaftliche Situation in der Ukraine und seine Perspektiven für die Entwicklung von Sotsialny Rukh. Wir empfehlen das Interview, das er 2024 der Zeitschrift Emanzipation gegeben hat: https://emanzipation.org/2024/04/als-sozialist-die-ukraine-verteidigen/